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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
von figürlichen Typen religiöser Bedeutung nicht entsagen wollte oder
konnte.

Im 9. Jahrh. fanden wir an den Stuckornamenten der Moschee des
Ibn Tulun zu Kairo die ersten Spuren einer Differenzirung saracenischer
und byzantinischer Ornamentik; doch muss die bezügliche Entwicklung
zunächst eine sehr langsame gewesen sein, da wir sie noch fast hundert
Jahre später an Elfenbeinschnitzereien nur um Geringes weiter fort-
geschritten angetroffen haben. Ja man darf vermuthen, dass, wenn
erst unsere Kenntniss der byzantinischen Ornamentik auf ein grösseres
und umfassenderes Material gestellt sein wird, die Differenzpunkte
zwischen der byzantinischen und saracenischen "Arabeske" sich eher
noch mehr vermindern, der gemeinsame Entwicklungsgang für beide
sich noch um ein Stück weiter herab verfolgen lassen wird75). Erst im
12. Jahrh., wie wir sehen werden, tritt uns die saracenische "Arabeske"
ziemlich fertig entgegen, erscheinen die verschiedenen charakteristischen
Züge, welche den Begriff der Arabeske zusammensetzen, nicht bloss
vereinzelt, sondern in ihrer Gesammtheit neben einander vertreten und
in Folge dessen die Beziehungen zur klassischen Rankenornamentik
nicht mehr so unmittelbar zu Tage tretend. Ob zwar wir also -- wie
Eingangs gestanden wurde -- einen genauen Zeitpunkt für die
Trennung der byzantinischen und der saracenischen Entwicklung
in der mittelalterlichen Rankenornamentik heute noch nicht fixiren
können, so werden wir dieselbe doch im Allgemeinen in das 10. und
11. Jahrh. verlegen dürfen, welcher weit gespannte Zeitraum sich aus
dem Grunde rechtfertigt, als der bezügliche Process in den weit aus-
gedehnten Gebieten, über welche sich die Herrschaft des Islam im Laufe
der Zeit erstreckt hat, gewiss nicht einen gleichmässigen, sondern einen
zeitlich sehr verschiedenen Gang genommen haben muss.

Die ornamentalen Elemente, an welchen sich die raschere und
somit von der strengbyzantinischen verschiedene Entwicklung auf
saracenischem Boden vollzogen hat, müssen nothwendigermaassen die-
jenigen gewesen sein, bis zu denen die gemeinsame Entwicklung im
Osten des Mittelmeeres, im christlich byzantinischen wie im saraceni-
schen, zuletzt geführt hatte.

Ist nun der Trennungspunkt nach dem eben vorhin Gesagten im
10. und 11. Jahrh. zu suchen, so werden wir dem uns aus dieser Zeit

75) Schon die Beispiele bei Stassoff a. a. O. Taf. 120--124 lassen diesen
Eindruck recht überzeugend gewinnen.

Die Arabeske.
von figürlichen Typen religiöser Bedeutung nicht entsagen wollte oder
konnte.

Im 9. Jahrh. fanden wir an den Stuckornamenten der Moschee des
Ibn Tulun zu Kairo die ersten Spuren einer Differenzirung saracenischer
und byzantinischer Ornamentik; doch muss die bezügliche Entwicklung
zunächst eine sehr langsame gewesen sein, da wir sie noch fast hundert
Jahre später an Elfenbeinschnitzereien nur um Geringes weiter fort-
geschritten angetroffen haben. Ja man darf vermuthen, dass, wenn
erst unsere Kenntniss der byzantinischen Ornamentik auf ein grösseres
und umfassenderes Material gestellt sein wird, die Differenzpunkte
zwischen der byzantinischen und saracenischen „Arabeske“ sich eher
noch mehr vermindern, der gemeinsame Entwicklungsgang für beide
sich noch um ein Stück weiter herab verfolgen lassen wird75). Erst im
12. Jahrh., wie wir sehen werden, tritt uns die saracenische „Arabeske“
ziemlich fertig entgegen, erscheinen die verschiedenen charakteristischen
Züge, welche den Begriff der Arabeske zusammensetzen, nicht bloss
vereinzelt, sondern in ihrer Gesammtheit neben einander vertreten und
in Folge dessen die Beziehungen zur klassischen Rankenornamentik
nicht mehr so unmittelbar zu Tage tretend. Ob zwar wir also — wie
Eingangs gestanden wurde — einen genauen Zeitpunkt für die
Trennung der byzantinischen und der saracenischen Entwicklung
in der mittelalterlichen Rankenornamentik heute noch nicht fixiren
können, so werden wir dieselbe doch im Allgemeinen in das 10. und
11. Jahrh. verlegen dürfen, welcher weit gespannte Zeitraum sich aus
dem Grunde rechtfertigt, als der bezügliche Process in den weit aus-
gedehnten Gebieten, über welche sich die Herrschaft des Islam im Laufe
der Zeit erstreckt hat, gewiss nicht einen gleichmässigen, sondern einen
zeitlich sehr verschiedenen Gang genommen haben muss.

Die ornamentalen Elemente, an welchen sich die raschere und
somit von der strengbyzantinischen verschiedene Entwicklung auf
saracenischem Boden vollzogen hat, müssen nothwendigermaassen die-
jenigen gewesen sein, bis zu denen die gemeinsame Entwicklung im
Osten des Mittelmeeres, im christlich byzantinischen wie im saraceni-
schen, zuletzt geführt hatte.

Ist nun der Trennungspunkt nach dem eben vorhin Gesagten im
10. und 11. Jahrh. zu suchen, so werden wir dem uns aus dieser Zeit

75) Schon die Beispiele bei Stassoff a. a. O. Taf. 120—124 lassen diesen
Eindruck recht überzeugend gewinnen.
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[326/0352] Die Arabeske. von figürlichen Typen religiöser Bedeutung nicht entsagen wollte oder konnte. Im 9. Jahrh. fanden wir an den Stuckornamenten der Moschee des Ibn Tulun zu Kairo die ersten Spuren einer Differenzirung saracenischer und byzantinischer Ornamentik; doch muss die bezügliche Entwicklung zunächst eine sehr langsame gewesen sein, da wir sie noch fast hundert Jahre später an Elfenbeinschnitzereien nur um Geringes weiter fort- geschritten angetroffen haben. Ja man darf vermuthen, dass, wenn erst unsere Kenntniss der byzantinischen Ornamentik auf ein grösseres und umfassenderes Material gestellt sein wird, die Differenzpunkte zwischen der byzantinischen und saracenischen „Arabeske“ sich eher noch mehr vermindern, der gemeinsame Entwicklungsgang für beide sich noch um ein Stück weiter herab verfolgen lassen wird 75). Erst im 12. Jahrh., wie wir sehen werden, tritt uns die saracenische „Arabeske“ ziemlich fertig entgegen, erscheinen die verschiedenen charakteristischen Züge, welche den Begriff der Arabeske zusammensetzen, nicht bloss vereinzelt, sondern in ihrer Gesammtheit neben einander vertreten und in Folge dessen die Beziehungen zur klassischen Rankenornamentik nicht mehr so unmittelbar zu Tage tretend. Ob zwar wir also — wie Eingangs gestanden wurde — einen genauen Zeitpunkt für die Trennung der byzantinischen und der saracenischen Entwicklung in der mittelalterlichen Rankenornamentik heute noch nicht fixiren können, so werden wir dieselbe doch im Allgemeinen in das 10. und 11. Jahrh. verlegen dürfen, welcher weit gespannte Zeitraum sich aus dem Grunde rechtfertigt, als der bezügliche Process in den weit aus- gedehnten Gebieten, über welche sich die Herrschaft des Islam im Laufe der Zeit erstreckt hat, gewiss nicht einen gleichmässigen, sondern einen zeitlich sehr verschiedenen Gang genommen haben muss. Die ornamentalen Elemente, an welchen sich die raschere und somit von der strengbyzantinischen verschiedene Entwicklung auf saracenischem Boden vollzogen hat, müssen nothwendigermaassen die- jenigen gewesen sein, bis zu denen die gemeinsame Entwicklung im Osten des Mittelmeeres, im christlich byzantinischen wie im saraceni- schen, zuletzt geführt hatte. Ist nun der Trennungspunkt nach dem eben vorhin Gesagten im 10. und 11. Jahrh. zu suchen, so werden wir dem uns aus dieser Zeit 75) Schon die Beispiele bei Stassoff a. a. O. Taf. 120—124 lassen diesen Eindruck recht überzeugend gewinnen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/352>, abgerufen am 05.12.2024.