bilden vorgestellt haben. Muss da nicht die Bedeutung dieser Gebilde bei ihren Schülern, den Saracenen, wenigstens ursprünglich, noth- wendigermaassen die gleiche gewesen sein?
An Fig. 174 konnten wir wahrnehmen, dass das Akanthusblatt darin nicht bloss zur Stilisirung des Halbpalmettenfächers -- also in seiner traditionellen historischen Funktion -- verwendet erscheint, sondern auch zur Gliederung der Voluten, die als Halbkelch am An- satze einer jeden solchen Akanthus-Halbpalmette -- gleichfalls einem traditionell-historischen Schema zufolge -- angebracht wurden, und endlich zur Zusammensetzung der grösseren Blüthenmotive selbst, in welche die Ranken frei endigen. Diese umfassende Anwendung des Akanthusblatts müsste uns in einer Kunst, deren Ziele auf das Abstrakte, Symmetrisch-Schematische gerichtet waren, Wunder nehmen, wenn sie in diese Kunst neu aufgenommen wäre. Sie ist aber nicht minder ein überkommenes Erbstück aus der späten Antike. Hier ist die Stelle, um auf die Rolle, die der Akanthus als vegetabilisches Einzelmotiv in der spät-antiken und früh-mittelalterlichen Kunst gespielt hat, näher ein- zugehen: erstlich um gewisse typische Formen der saracenischen Kunst zu erklären, zweitens um der Frage willen, wohin denn das weitaus wichtigste Ornamentmotiv der Antike -- eben der Akanthus -- im mittelalterlichen Orient gekommen ist? -- eine Frage, die man sich bisher noch gar nicht vorgelegt zu haben scheint, da man eben unter dem lähmendem Drucke der allverbreiteten Meinung stand, dass für die Erscheinungen auf dem Gebiete der Ornamentik das Kausalitäts- gesetz keineswegs unbedingt geltend gemacht werden dürfte.
Der Ausgangspunkt liegt auch hiefür wieder in der ausgebildeten hellenistischen Kunst. Fig. 177 zeigt die Reliefverzierung einer steinernen cylinderförmigen Ara aus Pompeji71). Das Ornament trägt alle charak- teristischen Züge der hellenistischen Dekorationskunst. Die mit einer Schleife umwundenen Embleme des Herkules repräsentiren die unver- meidliche Götter- und Heroensage, aber in spielender dekorativer Be- handlung, trophäenartiger Zusammenstellung; dahinter zwei gekreuzte Zweige, die nach abwärts divergiren und mit den von beiden Seiten ent- gegenkommenden Zweigen unten zu Festons verknüpft werden. Wir ahnen zwar den kreisförmigen Schwung der ornamentalen Ranke, sehen aber nur knorrige blätterbesetzte Zweige. Soweit athmet alles Naturalismus. Wenn wir aber dasjenige, womit die Zweige belaubt sind, in's Auge
71) Niccolini, Descriz. gener. XCVI.
Riegl, Stilfragen. 21
2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
bilden vorgestellt haben. Muss da nicht die Bedeutung dieser Gebilde bei ihren Schülern, den Saracenen, wenigstens ursprünglich, noth- wendigermaassen die gleiche gewesen sein?
An Fig. 174 konnten wir wahrnehmen, dass das Akanthusblatt darin nicht bloss zur Stilisirung des Halbpalmettenfächers — also in seiner traditionellen historischen Funktion — verwendet erscheint, sondern auch zur Gliederung der Voluten, die als Halbkelch am An- satze einer jeden solchen Akanthus-Halbpalmette — gleichfalls einem traditionell-historischen Schema zufolge — angebracht wurden, und endlich zur Zusammensetzung der grösseren Blüthenmotive selbst, in welche die Ranken frei endigen. Diese umfassende Anwendung des Akanthusblatts müsste uns in einer Kunst, deren Ziele auf das Abstrakte, Symmetrisch-Schematische gerichtet waren, Wunder nehmen, wenn sie in diese Kunst neu aufgenommen wäre. Sie ist aber nicht minder ein überkommenes Erbstück aus der späten Antike. Hier ist die Stelle, um auf die Rolle, die der Akanthus als vegetabilisches Einzelmotiv in der spät-antiken und früh-mittelalterlichen Kunst gespielt hat, näher ein- zugehen: erstlich um gewisse typische Formen der saracenischen Kunst zu erklären, zweitens um der Frage willen, wohin denn das weitaus wichtigste Ornamentmotiv der Antike — eben der Akanthus — im mittelalterlichen Orient gekommen ist? — eine Frage, die man sich bisher noch gar nicht vorgelegt zu haben scheint, da man eben unter dem lähmendem Drucke der allverbreiteten Meinung stand, dass für die Erscheinungen auf dem Gebiete der Ornamentik das Kausalitäts- gesetz keineswegs unbedingt geltend gemacht werden dürfte.
Der Ausgangspunkt liegt auch hiefür wieder in der ausgebildeten hellenistischen Kunst. Fig. 177 zeigt die Reliefverzierung einer steinernen cylinderförmigen Ara aus Pompeji71). Das Ornament trägt alle charak- teristischen Züge der hellenistischen Dekorationskunst. Die mit einer Schleife umwundenen Embleme des Herkules repräsentiren die unver- meidliche Götter- und Heroensage, aber in spielender dekorativer Be- handlung, trophäenartiger Zusammenstellung; dahinter zwei gekreuzte Zweige, die nach abwärts divergiren und mit den von beiden Seiten ent- gegenkommenden Zweigen unten zu Festons verknüpft werden. Wir ahnen zwar den kreisförmigen Schwung der ornamentalen Ranke, sehen aber nur knorrige blätterbesetzte Zweige. Soweit athmet alles Naturalismus. Wenn wir aber dasjenige, womit die Zweige belaubt sind, in’s Auge
71) Niccolini, Descriz. gener. XCVI.
Riegl, Stilfragen. 21
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2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
bilden vorgestellt haben. Muss da nicht die Bedeutung dieser Gebilde
bei ihren Schülern, den Saracenen, wenigstens ursprünglich, noth-
wendigermaassen die gleiche gewesen sein?
An Fig. 174 konnten wir wahrnehmen, dass das Akanthusblatt
darin nicht bloss zur Stilisirung des Halbpalmettenfächers — also in
seiner traditionellen historischen Funktion — verwendet erscheint,
sondern auch zur Gliederung der Voluten, die als Halbkelch am An-
satze einer jeden solchen Akanthus-Halbpalmette — gleichfalls einem
traditionell-historischen Schema zufolge — angebracht wurden, und
endlich zur Zusammensetzung der grösseren Blüthenmotive selbst,
in welche die Ranken frei endigen. Diese umfassende Anwendung des
Akanthusblatts müsste uns in einer Kunst, deren Ziele auf das Abstrakte,
Symmetrisch-Schematische gerichtet waren, Wunder nehmen, wenn sie
in diese Kunst neu aufgenommen wäre. Sie ist aber nicht minder ein
überkommenes Erbstück aus der späten Antike. Hier ist die Stelle,
um auf die Rolle, die der Akanthus als vegetabilisches Einzelmotiv in
der spät-antiken und früh-mittelalterlichen Kunst gespielt hat, näher ein-
zugehen: erstlich um gewisse typische Formen der saracenischen Kunst
zu erklären, zweitens um der Frage willen, wohin denn das weitaus
wichtigste Ornamentmotiv der Antike — eben der Akanthus — im
mittelalterlichen Orient gekommen ist? — eine Frage, die man sich
bisher noch gar nicht vorgelegt zu haben scheint, da man eben unter
dem lähmendem Drucke der allverbreiteten Meinung stand, dass für
die Erscheinungen auf dem Gebiete der Ornamentik das Kausalitäts-
gesetz keineswegs unbedingt geltend gemacht werden dürfte.
Der Ausgangspunkt liegt auch hiefür wieder in der ausgebildeten
hellenistischen Kunst. Fig. 177 zeigt die Reliefverzierung einer steinernen
cylinderförmigen Ara aus Pompeji 71). Das Ornament trägt alle charak-
teristischen Züge der hellenistischen Dekorationskunst. Die mit einer
Schleife umwundenen Embleme des Herkules repräsentiren die unver-
meidliche Götter- und Heroensage, aber in spielender dekorativer Be-
handlung, trophäenartiger Zusammenstellung; dahinter zwei gekreuzte
Zweige, die nach abwärts divergiren und mit den von beiden Seiten ent-
gegenkommenden Zweigen unten zu Festons verknüpft werden. Wir ahnen
zwar den kreisförmigen Schwung der ornamentalen Ranke, sehen aber
nur knorrige blätterbesetzte Zweige. Soweit athmet alles Naturalismus.
Wenn wir aber dasjenige, womit die Zweige belaubt sind, in’s Auge
71) Niccolini, Descriz. gener. XCVI.
Riegl, Stilfragen. 21
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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/347>, abgerufen am 10.01.2025.
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