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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
volles wie als halbes, die ganze hellenistische und frühere römische
Kaiserzeit hindurch ein ungetheiltes Ganzes. Vorboten der kommenden
Auflösung lassen sich aber bereits an den Beispielen vom Nerva-Forum
(Fig. 135, 136) erkennen: das Uebergehen der einzelnen Halbblätter in
verbindende Ranken, das Ineinanderschachteln von Blättern erscheinen
als geeignete Zwischenglieder, um allmählich die ursprüngliche Indivi-
dualität des Akanthusblattes zu verwischen. Nun im 5. Jahrh. sehen
wir den Process am Ende angelangt und die einzelnen mehrspältigen
Zacken lösen sich vom ehemaligen Akanthusvoll- oder Halbblatte ab
und bilden eigene Konfigurationen von selbständiger Bedeutung. Es
hat völlig den Anschein, als ob ein gerader Entwicklungsgang zu gar
keinem anderen Resultate hätte führen können. Der "byzantinische"
Akanthus erscheint hienach als reines Produkt eines von der besten
klassischen Zeit an zu verfolgenden Entwicklungsprocesses, und keines-
[Abbildung] Fig. 143.

Ornamentale Details von der Kirche der hll. Sergius u. Bacchus zu Konstantinopel.

wegs als Schöpfung eines byzantinischen genius loci oder als Resultat
der Beeinflussung Seitens einer unerfindlichen "orientalischen" Original-
kunst.

Beispiele von selbständigen abgelösten Zacken des byzantinischen
Akanthus zeigt Fig. 143 aus St. Sergius und Bacchus18). Das wichtigste
Beispiel darunter ist das in der Mitte befindliche sogen. Dreiblatt. Es
zeigt ungefähr die Stilisirung der heraldischen Lilie. Späterhin ist es
nicht bloss in der byzantinischen, sondern auch in der saracenischen
Kunst von solcher Bedeutung gewesen, ein so vulgäres Element aller
Dekoration geworden, dass wir ihm an dieser Stelle einige Worte im
Besonderen widmen müssen.

Das Dreiblatt besteht aus einem Volutenkelch und krönendem
Blatt darüber. Aeusserlich ist es somit fast identisch mit gewissen ab-
breviirten Lotusblüthen-Bildungen der altorientalischen Künste (Fig. 20,
35). Der reducirte Volutenkelch der auch im 5. Jahrh. und darüber

18) Nach Pulgher a. a. O. III. 2.

Die Arabeske.
volles wie als halbes, die ganze hellenistische und frühere römische
Kaiserzeit hindurch ein ungetheiltes Ganzes. Vorboten der kommenden
Auflösung lassen sich aber bereits an den Beispielen vom Nerva-Forum
(Fig. 135, 136) erkennen: das Uebergehen der einzelnen Halbblätter in
verbindende Ranken, das Ineinanderschachteln von Blättern erscheinen
als geeignete Zwischenglieder, um allmählich die ursprüngliche Indivi-
dualität des Akanthusblattes zu verwischen. Nun im 5. Jahrh. sehen
wir den Process am Ende angelangt und die einzelnen mehrspältigen
Zacken lösen sich vom ehemaligen Akanthusvoll- oder Halbblatte ab
und bilden eigene Konfigurationen von selbständiger Bedeutung. Es
hat völlig den Anschein, als ob ein gerader Entwicklungsgang zu gar
keinem anderen Resultate hätte führen können. Der „byzantinische“
Akanthus erscheint hienach als reines Produkt eines von der besten
klassischen Zeit an zu verfolgenden Entwicklungsprocesses, und keines-
[Abbildung] Fig. 143.

Ornamentale Details von der Kirche der hll. Sergius u. Bacchus zu Konstantinopel.

wegs als Schöpfung eines byzantinischen genius loci oder als Resultat
der Beeinflussung Seitens einer unerfindlichen „orientalischen“ Original-
kunst.

Beispiele von selbständigen abgelösten Zacken des byzantinischen
Akanthus zeigt Fig. 143 aus St. Sergius und Bacchus18). Das wichtigste
Beispiel darunter ist das in der Mitte befindliche sogen. Dreiblatt. Es
zeigt ungefähr die Stilisirung der heraldischen Lilie. Späterhin ist es
nicht bloss in der byzantinischen, sondern auch in der saracenischen
Kunst von solcher Bedeutung gewesen, ein so vulgäres Element aller
Dekoration geworden, dass wir ihm an dieser Stelle einige Worte im
Besonderen widmen müssen.

Das Dreiblatt besteht aus einem Volutenkelch und krönendem
Blatt darüber. Aeusserlich ist es somit fast identisch mit gewissen ab-
breviirten Lotusblüthen-Bildungen der altorientalischen Künste (Fig. 20,
35). Der reducirte Volutenkelch der auch im 5. Jahrh. und darüber

18) Nach Pulgher a. a. O. III. 2.
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[278/0304] Die Arabeske. volles wie als halbes, die ganze hellenistische und frühere römische Kaiserzeit hindurch ein ungetheiltes Ganzes. Vorboten der kommenden Auflösung lassen sich aber bereits an den Beispielen vom Nerva-Forum (Fig. 135, 136) erkennen: das Uebergehen der einzelnen Halbblätter in verbindende Ranken, das Ineinanderschachteln von Blättern erscheinen als geeignete Zwischenglieder, um allmählich die ursprüngliche Indivi- dualität des Akanthusblattes zu verwischen. Nun im 5. Jahrh. sehen wir den Process am Ende angelangt und die einzelnen mehrspältigen Zacken lösen sich vom ehemaligen Akanthusvoll- oder Halbblatte ab und bilden eigene Konfigurationen von selbständiger Bedeutung. Es hat völlig den Anschein, als ob ein gerader Entwicklungsgang zu gar keinem anderen Resultate hätte führen können. Der „byzantinische“ Akanthus erscheint hienach als reines Produkt eines von der besten klassischen Zeit an zu verfolgenden Entwicklungsprocesses, und keines- [Abbildung Fig. 143. Ornamentale Details von der Kirche der hll. Sergius u. Bacchus zu Konstantinopel.] wegs als Schöpfung eines byzantinischen genius loci oder als Resultat der Beeinflussung Seitens einer unerfindlichen „orientalischen“ Original- kunst. Beispiele von selbständigen abgelösten Zacken des byzantinischen Akanthus zeigt Fig. 143 aus St. Sergius und Bacchus 18). Das wichtigste Beispiel darunter ist das in der Mitte befindliche sogen. Dreiblatt. Es zeigt ungefähr die Stilisirung der heraldischen Lilie. Späterhin ist es nicht bloss in der byzantinischen, sondern auch in der saracenischen Kunst von solcher Bedeutung gewesen, ein so vulgäres Element aller Dekoration geworden, dass wir ihm an dieser Stelle einige Worte im Besonderen widmen müssen. Das Dreiblatt besteht aus einem Volutenkelch und krönendem Blatt darüber. Aeusserlich ist es somit fast identisch mit gewissen ab- breviirten Lotusblüthen-Bildungen der altorientalischen Künste (Fig. 20, 35). Der reducirte Volutenkelch der auch im 5. Jahrh. und darüber 18) Nach Pulgher a. a. O. III. 2.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/304>, abgerufen am 18.05.2024.