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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
hinaus immer noch bekannt gewesenen flachen -- insbesondere der
gesprengten -- Palmette mag gewiss auf die Stilisirung des Dreiblattes
Einfluss geübt haben. Dazu kommt aber noch ein Zweites von ganz
wesentlicher, weil unmittelbarer Bedeutung: der Volutenkelch des by-
zantinischen Dreiblattes war schon an und für sich bedingt durch die
scharfe Einziehung zwischen den einzelnen ausgezackten
Gliedern
, in welche eben das alte Akanthusblatt zu zerfallen im Begriffe
stand. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Drei-
blätter, in welche die Akanthusranke auf dem Architrav in Fig. 142
aufgelöst ist.

Am Dreiblatt ist ferner die Kielbogenform des krönenden Blätt-
chens zu vermerken. Diese Bogenform ist bekanntlich späterhin ganz
besonders charakteristisch für die saracenische Stilweise geworden.
Ihr Auftreten in der oströmischen Kunst des 5. Jahrh. wird uns aber
gleichfalls nicht völlig unerwartet kommen: hat doch das Akanthus-
halbblatt (sowie die gesprengte Palmette) in der ganzen römischen Zeit
und schon früher die ausgesprochene Tendenz nach Führung in aus-
wärts gekrümmten, ausgeschweiften Linien bekundet (S. 245.)

Man vergleiche alle die einschlägigen Kapitäle aus den Publika-
tionen von Salzenberg und Pulgher, und man wird sich alsbald davon
überzeugen, dass die Auflösung, die Zerpflückung des ursprünglichen
individuellen Akanthusblattes und die willkürliche Verwendung und
Zusammenstellung der einzelnen Theilglieder (Fig. 143) den wesent-
lichen Unterschied der justinianischen Ornamentik gegenüber der
griechisch-römischen begründen. Um so entschiedener muss eine Hypo-
these abgewiesen werden, welche den vermeintlich so eigenartigen
Blattschnitt, d. h. die "fette und zackige" Bildung des Blattrandes,
wiederum mit der ostmittelländischen Acanthus spinosa, gegenüber der
italischen Acanthus mollis, in Verbindung bringen wollte19). Die Stein-
metzen der Justinianischen Zeit hätten nach dieser Hypothese aber-
mals Blattstudien nach der Natur gemacht, wie dies heutzutage in
unseren Kunstgewerbeschulen zu geschehen pflegt; oder aber sollte die
Gewohnheit solchen Naturstudiums, überhaupt seit Kallimachos in un-
unterbrochener Uebung geblieben sein? Gerade die Auflösung des
ehemaligen Akanthusblattes in spätrömischer Zeit beweist die Unmög-
lichkeit einer solchen engen Anlehnung an bestimmte Naturvorbilder,
und liefert auf's Neue den Beweis, dass die ornamentale Kunst zu allen

19) Mitth. des deut. arch. Instit. zu Athen XIV. 280.

1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
hinaus immer noch bekannt gewesenen flachen — insbesondere der
gesprengten — Palmette mag gewiss auf die Stilisirung des Dreiblattes
Einfluss geübt haben. Dazu kommt aber noch ein Zweites von ganz
wesentlicher, weil unmittelbarer Bedeutung: der Volutenkelch des by-
zantinischen Dreiblattes war schon an und für sich bedingt durch die
scharfe Einziehung zwischen den einzelnen ausgezackten
Gliedern
, in welche eben das alte Akanthusblatt zu zerfallen im Begriffe
stand. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Drei-
blätter, in welche die Akanthusranke auf dem Architrav in Fig. 142
aufgelöst ist.

Am Dreiblatt ist ferner die Kielbogenform des krönenden Blätt-
chens zu vermerken. Diese Bogenform ist bekanntlich späterhin ganz
besonders charakteristisch für die saracenische Stilweise geworden.
Ihr Auftreten in der oströmischen Kunst des 5. Jahrh. wird uns aber
gleichfalls nicht völlig unerwartet kommen: hat doch das Akanthus-
halbblatt (sowie die gesprengte Palmette) in der ganzen römischen Zeit
und schon früher die ausgesprochene Tendenz nach Führung in aus-
wärts gekrümmten, ausgeschweiften Linien bekundet (S. 245.)

Man vergleiche alle die einschlägigen Kapitäle aus den Publika-
tionen von Salzenberg und Pulgher, und man wird sich alsbald davon
überzeugen, dass die Auflösung, die Zerpflückung des ursprünglichen
individuellen Akanthusblattes und die willkürliche Verwendung und
Zusammenstellung der einzelnen Theilglieder (Fig. 143) den wesent-
lichen Unterschied der justinianischen Ornamentik gegenüber der
griechisch-römischen begründen. Um so entschiedener muss eine Hypo-
these abgewiesen werden, welche den vermeintlich so eigenartigen
Blattschnitt, d. h. die „fette und zackige“ Bildung des Blattrandes,
wiederum mit der ostmittelländischen Acanthus spinosa, gegenüber der
italischen Acanthus mollis, in Verbindung bringen wollte19). Die Stein-
metzen der Justinianischen Zeit hätten nach dieser Hypothese aber-
mals Blattstudien nach der Natur gemacht, wie dies heutzutage in
unseren Kunstgewerbeschulen zu geschehen pflegt; oder aber sollte die
Gewohnheit solchen Naturstudiums, überhaupt seit Kallimachos in un-
unterbrochener Uebung geblieben sein? Gerade die Auflösung des
ehemaligen Akanthusblattes in spätrömischer Zeit beweist die Unmög-
lichkeit einer solchen engen Anlehnung an bestimmte Naturvorbilder,
und liefert auf’s Neue den Beweis, dass die ornamentale Kunst zu allen

19) Mitth. des deut. arch. Instit. zu Athen XIV. 280.
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[279/0305] 1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. hinaus immer noch bekannt gewesenen flachen — insbesondere der gesprengten — Palmette mag gewiss auf die Stilisirung des Dreiblattes Einfluss geübt haben. Dazu kommt aber noch ein Zweites von ganz wesentlicher, weil unmittelbarer Bedeutung: der Volutenkelch des by- zantinischen Dreiblattes war schon an und für sich bedingt durch die scharfe Einziehung zwischen den einzelnen ausgezackten Gliedern, in welche eben das alte Akanthusblatt zu zerfallen im Begriffe stand. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Drei- blätter, in welche die Akanthusranke auf dem Architrav in Fig. 142 aufgelöst ist. Am Dreiblatt ist ferner die Kielbogenform des krönenden Blätt- chens zu vermerken. Diese Bogenform ist bekanntlich späterhin ganz besonders charakteristisch für die saracenische Stilweise geworden. Ihr Auftreten in der oströmischen Kunst des 5. Jahrh. wird uns aber gleichfalls nicht völlig unerwartet kommen: hat doch das Akanthus- halbblatt (sowie die gesprengte Palmette) in der ganzen römischen Zeit und schon früher die ausgesprochene Tendenz nach Führung in aus- wärts gekrümmten, ausgeschweiften Linien bekundet (S. 245.) Man vergleiche alle die einschlägigen Kapitäle aus den Publika- tionen von Salzenberg und Pulgher, und man wird sich alsbald davon überzeugen, dass die Auflösung, die Zerpflückung des ursprünglichen individuellen Akanthusblattes und die willkürliche Verwendung und Zusammenstellung der einzelnen Theilglieder (Fig. 143) den wesent- lichen Unterschied der justinianischen Ornamentik gegenüber der griechisch-römischen begründen. Um so entschiedener muss eine Hypo- these abgewiesen werden, welche den vermeintlich so eigenartigen Blattschnitt, d. h. die „fette und zackige“ Bildung des Blattrandes, wiederum mit der ostmittelländischen Acanthus spinosa, gegenüber der italischen Acanthus mollis, in Verbindung bringen wollte 19). Die Stein- metzen der Justinianischen Zeit hätten nach dieser Hypothese aber- mals Blattstudien nach der Natur gemacht, wie dies heutzutage in unseren Kunstgewerbeschulen zu geschehen pflegt; oder aber sollte die Gewohnheit solchen Naturstudiums, überhaupt seit Kallimachos in un- unterbrochener Uebung geblieben sein? Gerade die Auflösung des ehemaligen Akanthusblattes in spätrömischer Zeit beweist die Unmög- lichkeit einer solchen engen Anlehnung an bestimmte Naturvorbilder, und liefert auf’s Neue den Beweis, dass die ornamentale Kunst zu allen 19) Mitth. des deut. arch. Instit. zu Athen XIV. 280.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/305>, abgerufen am 18.05.2024.