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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
findet16). Wäre es bloss bei der langen und spitzen Bildung der
Einzelzacken geblieben, so hätten wir kaum einen genügenden Grund
von einem "byzantinischen" Akanthus zu reden.

Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal für den byzantini-
schen Akanthus beruht in der Auflösung des früheren Gesammt-
blattes in einzelne kleinere Blätter
. In Fig. 142 ist es am Kapitäl
noch nicht genügend ersichtlich, weil daselbst nach dem zwingenden
Vorbilde des römischen Kapitäls bloss neben einander gereihte Akan-
thusvollblätter angebracht werden konnten17). Aber selbst an diesen
lässt sich der Umschwung bei näherem Zusehen beobachten: die ein-
zelnen Zackengruppen, die als grössere Zacke in der Peripherie der
Blätter ausladen, sind ungemein tief eingeschnitten. Wäre nicht der
Scheitel-Ueberfall eines jeden Vollblattes, so würde der Charakter eines
solchen schon sehr zurücktreten, gegenüber den einzelnen ausladenden
Zacken. Völlig deutlich veranschaulicht sehen wir das Endergebniss
dieses Processes an der fortlaufenden Akanthusranke, mit welcher der
Architrav in Fig. 142 verziert erscheint. Zweifellos kommt das Blatt-
werk dieser Wellenranke von dem Akanthushalbblatt her, wofür bloss
auf unsere Ausführungen über die Akanthusranke (S. 254 ff.) rückver-
wiesen zu werden braucht. Aber die vormals einheitlichen Halbblätter
sind aufgelöst in meist drei-, seltener vier- bis fünf-spältige Zacken,
wie sie sich von der Peripherie des Akanthusblattes abgetrennt haben.
Ja noch mehr: diese Drei- (Vier- und Mehr-) Blätter schmiegen sich
bereits den verschiedenen Konfigurationen des Raumes an, der auszu-
füllen ist, lassen sich in die mannigfaltigsten Richtungen und Projek-
tionen pressen.

Es kann nur zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, wenn wir
an diesem entscheidenden Punkte einen flüchtigen aber übersichtlichen
Rückblick auf den Entwicklungslauf des Akanthus werfen. Ausgegangen
ist derselbe vom glatten Blattfächer der Palmette: bald knüpft sich
daran eine Gliederung der einzelnen Blätter des Fächers in mehr-
zackige Enden, wie wir sie z. B. am Lysikratesdenkmal bereits vor-
finden. Trotz dieser Gliederung bleibt das Akanthusblatt, sowohl als

16) So z. B. am Hadriansthor zu Adalia, abgebildet in Lanckoronski's
Pamphylien.
17) Am korinthischen Kapitäl hat sich denn auch das Akanthusvollblatt
am längsten bis in die ausgebildete saracenische Kunst erhalten; doch lässt
sich anderseits der Einfluss der Auflösung selbst schon an Kapitälen der
frühbyzantinischen Zeit feststellen (Salzenberg Taf. V).

1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
findet16). Wäre es bloss bei der langen und spitzen Bildung der
Einzelzacken geblieben, so hätten wir kaum einen genügenden Grund
von einem „byzantinischen“ Akanthus zu reden.

Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal für den byzantini-
schen Akanthus beruht in der Auflösung des früheren Gesammt-
blattes in einzelne kleinere Blätter
. In Fig. 142 ist es am Kapitäl
noch nicht genügend ersichtlich, weil daselbst nach dem zwingenden
Vorbilde des römischen Kapitäls bloss neben einander gereihte Akan-
thusvollblätter angebracht werden konnten17). Aber selbst an diesen
lässt sich der Umschwung bei näherem Zusehen beobachten: die ein-
zelnen Zackengruppen, die als grössere Zacke in der Peripherie der
Blätter ausladen, sind ungemein tief eingeschnitten. Wäre nicht der
Scheitel-Ueberfall eines jeden Vollblattes, so würde der Charakter eines
solchen schon sehr zurücktreten, gegenüber den einzelnen ausladenden
Zacken. Völlig deutlich veranschaulicht sehen wir das Endergebniss
dieses Processes an der fortlaufenden Akanthusranke, mit welcher der
Architrav in Fig. 142 verziert erscheint. Zweifellos kommt das Blatt-
werk dieser Wellenranke von dem Akanthushalbblatt her, wofür bloss
auf unsere Ausführungen über die Akanthusranke (S. 254 ff.) rückver-
wiesen zu werden braucht. Aber die vormals einheitlichen Halbblätter
sind aufgelöst in meist drei-, seltener vier- bis fünf-spältige Zacken,
wie sie sich von der Peripherie des Akanthusblattes abgetrennt haben.
Ja noch mehr: diese Drei- (Vier- und Mehr-) Blätter schmiegen sich
bereits den verschiedenen Konfigurationen des Raumes an, der auszu-
füllen ist, lassen sich in die mannigfaltigsten Richtungen und Projek-
tionen pressen.

Es kann nur zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, wenn wir
an diesem entscheidenden Punkte einen flüchtigen aber übersichtlichen
Rückblick auf den Entwicklungslauf des Akanthus werfen. Ausgegangen
ist derselbe vom glatten Blattfächer der Palmette: bald knüpft sich
daran eine Gliederung der einzelnen Blätter des Fächers in mehr-
zackige Enden, wie wir sie z. B. am Lysikratesdenkmal bereits vor-
finden. Trotz dieser Gliederung bleibt das Akanthusblatt, sowohl als

16) So z. B. am Hadriansthor zu Adalia, abgebildet in Lanckoronski’s
Pamphylien.
17) Am korinthischen Kapitäl hat sich denn auch das Akanthusvollblatt
am längsten bis in die ausgebildete saracenische Kunst erhalten; doch lässt
sich anderseits der Einfluss der Auflösung selbst schon an Kapitälen der
frühbyzantinischen Zeit feststellen (Salzenberg Taf. V).
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[277/0303] 1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. findet 16). Wäre es bloss bei der langen und spitzen Bildung der Einzelzacken geblieben, so hätten wir kaum einen genügenden Grund von einem „byzantinischen“ Akanthus zu reden. Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal für den byzantini- schen Akanthus beruht in der Auflösung des früheren Gesammt- blattes in einzelne kleinere Blätter. In Fig. 142 ist es am Kapitäl noch nicht genügend ersichtlich, weil daselbst nach dem zwingenden Vorbilde des römischen Kapitäls bloss neben einander gereihte Akan- thusvollblätter angebracht werden konnten 17). Aber selbst an diesen lässt sich der Umschwung bei näherem Zusehen beobachten: die ein- zelnen Zackengruppen, die als grössere Zacke in der Peripherie der Blätter ausladen, sind ungemein tief eingeschnitten. Wäre nicht der Scheitel-Ueberfall eines jeden Vollblattes, so würde der Charakter eines solchen schon sehr zurücktreten, gegenüber den einzelnen ausladenden Zacken. Völlig deutlich veranschaulicht sehen wir das Endergebniss dieses Processes an der fortlaufenden Akanthusranke, mit welcher der Architrav in Fig. 142 verziert erscheint. Zweifellos kommt das Blatt- werk dieser Wellenranke von dem Akanthushalbblatt her, wofür bloss auf unsere Ausführungen über die Akanthusranke (S. 254 ff.) rückver- wiesen zu werden braucht. Aber die vormals einheitlichen Halbblätter sind aufgelöst in meist drei-, seltener vier- bis fünf-spältige Zacken, wie sie sich von der Peripherie des Akanthusblattes abgetrennt haben. Ja noch mehr: diese Drei- (Vier- und Mehr-) Blätter schmiegen sich bereits den verschiedenen Konfigurationen des Raumes an, der auszu- füllen ist, lassen sich in die mannigfaltigsten Richtungen und Projek- tionen pressen. Es kann nur zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, wenn wir an diesem entscheidenden Punkte einen flüchtigen aber übersichtlichen Rückblick auf den Entwicklungslauf des Akanthus werfen. Ausgegangen ist derselbe vom glatten Blattfächer der Palmette: bald knüpft sich daran eine Gliederung der einzelnen Blätter des Fächers in mehr- zackige Enden, wie wir sie z. B. am Lysikratesdenkmal bereits vor- finden. Trotz dieser Gliederung bleibt das Akanthusblatt, sowohl als 16) So z. B. am Hadriansthor zu Adalia, abgebildet in Lanckoronski’s Pamphylien. 17) Am korinthischen Kapitäl hat sich denn auch das Akanthusvollblatt am längsten bis in die ausgebildete saracenische Kunst erhalten; doch lässt sich anderseits der Einfluss der Auflösung selbst schon an Kapitälen der frühbyzantinischen Zeit feststellen (Salzenberg Taf. V).

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/303>, abgerufen am 18.05.2024.