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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
nicht als in der Ranke aufgehend, als unfrei zu erscheinen. Was aber
das gegebene Beispiel für die künftige Entwicklung so überaus wichtig
macht, das ist der Umstand, dass daran in der zeichnerischen
Projektion
Formen vorliegen, aus denen eine spätere, dem Naturalismus
abgekehrte und die ursprüngliche vegetabilische Bedeutung des Orna-
ments absichtlich verkennende Kunst ein mehr oder minder abstraktes
Gebilde schaffen konnte und in der That geschaffen hat, mochte auch
der griechische Maler dieser Vase noch gar nicht daran gedacht haben,
dass er mit seiner Stilisirung ein die Natur vergewaltigendes, ein anti-
naturalististisches Schema von Pflanzendekoration geschaffen hat.

Ferner ist noch einmal hinzuweisen
auf die Scheitelenden der freien Halb-
palmetten, deren verdickte körperliche
Form bereits an früherer Stelle Erörte-
rung gefunden hatte. Es erübrigt uns
daran noch die starke Krümmung nach
Aussen in's Auge zu fassen. Diese Krüm-
mung konnte sich naturgemäss bloss an
den freien Halbpalmetten so energisch
äussern; es ist aber wichtig zu ver-
merken, dass auch die unfreien Halb-
palmetten die Neigung zeigen, den
Scheitel umzubiegen. Es ist der Geist
der gesprengten Palmette, der sich darin
ausdrückt, und dem allerdings an der

[Abbildung] Fig. 126.

Gemaltes griechisches Rankenornament.

unfreien Halbpalmette schon durch die undulirende Bewegung der
Ranke Vorschub geleistet wurde. Ein sehr lehrreiches Beispiel für die
Tendenz der Halbpalmetten nach einer Krümmung ihrer Scheitelspitzen
nach Aussen bietet auch Fig. 12653), wo übrigens der Fächer der
mittleren Halbpalmetten durch Unterdrückung der einzelnen Blätter zu
einem sphärischen Dreieck zusammengezogen und dadurch fast arabesk
geometrisirt erscheint.

Die Wichtigkeit die wir der Gestaltung des Palmettenrankenorna-
ments, wie sie uns in Fig. 125 entgegentritt, nach dem Gesagten bei-
messen müssen, dürfte es rechtfertigen, wenn in Fig. 12754) noch ein

53) Nach Owen Jones XX. 1.
54) Von einer attischen Lekythos im k. k. österreich. Museum f. Kunst u.
Indust., Kat. No. 370. -- Die Redaction dieses Kataloges durch Dr. K. Masner
(Die Sammlung antiker Vasen und Terrakotten im k. k. österr. Museum, Wien

10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
nicht als in der Ranke aufgehend, als unfrei zu erscheinen. Was aber
das gegebene Beispiel für die künftige Entwicklung so überaus wichtig
macht, das ist der Umstand, dass daran in der zeichnerischen
Projektion
Formen vorliegen, aus denen eine spätere, dem Naturalismus
abgekehrte und die ursprüngliche vegetabilische Bedeutung des Orna-
ments absichtlich verkennende Kunst ein mehr oder minder abstraktes
Gebilde schaffen konnte und in der That geschaffen hat, mochte auch
der griechische Maler dieser Vase noch gar nicht daran gedacht haben,
dass er mit seiner Stilisirung ein die Natur vergewaltigendes, ein anti-
naturalististisches Schema von Pflanzendekoration geschaffen hat.

Ferner ist noch einmal hinzuweisen
auf die Scheitelenden der freien Halb-
palmetten, deren verdickte körperliche
Form bereits an früherer Stelle Erörte-
rung gefunden hatte. Es erübrigt uns
daran noch die starke Krümmung nach
Aussen in’s Auge zu fassen. Diese Krüm-
mung konnte sich naturgemäss bloss an
den freien Halbpalmetten so energisch
äussern; es ist aber wichtig zu ver-
merken, dass auch die unfreien Halb-
palmetten die Neigung zeigen, den
Scheitel umzubiegen. Es ist der Geist
der gesprengten Palmette, der sich darin
ausdrückt, und dem allerdings an der

[Abbildung] Fig. 126.

Gemaltes griechisches Rankenornament.

unfreien Halbpalmette schon durch die undulirende Bewegung der
Ranke Vorschub geleistet wurde. Ein sehr lehrreiches Beispiel für die
Tendenz der Halbpalmetten nach einer Krümmung ihrer Scheitelspitzen
nach Aussen bietet auch Fig. 12653), wo übrigens der Fächer der
mittleren Halbpalmetten durch Unterdrückung der einzelnen Blätter zu
einem sphärischen Dreieck zusammengezogen und dadurch fast arabesk
geometrisirt erscheint.

Die Wichtigkeit die wir der Gestaltung des Palmettenrankenorna-
ments, wie sie uns in Fig. 125 entgegentritt, nach dem Gesagten bei-
messen müssen, dürfte es rechtfertigen, wenn in Fig. 12754) noch ein

53) Nach Owen Jones XX. 1.
54) Von einer attischen Lekythos im k. k. österreich. Museum f. Kunst u.
Indust., Kat. No. 370. — Die Redaction dieses Kataloges durch Dr. K. Masner
(Die Sammlung antiker Vasen und Terrakotten im k. k. österr. Museum, Wien
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[245/0271] 10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament. nicht als in der Ranke aufgehend, als unfrei zu erscheinen. Was aber das gegebene Beispiel für die künftige Entwicklung so überaus wichtig macht, das ist der Umstand, dass daran in der zeichnerischen Projektion Formen vorliegen, aus denen eine spätere, dem Naturalismus abgekehrte und die ursprüngliche vegetabilische Bedeutung des Orna- ments absichtlich verkennende Kunst ein mehr oder minder abstraktes Gebilde schaffen konnte und in der That geschaffen hat, mochte auch der griechische Maler dieser Vase noch gar nicht daran gedacht haben, dass er mit seiner Stilisirung ein die Natur vergewaltigendes, ein anti- naturalististisches Schema von Pflanzendekoration geschaffen hat. Ferner ist noch einmal hinzuweisen auf die Scheitelenden der freien Halb- palmetten, deren verdickte körperliche Form bereits an früherer Stelle Erörte- rung gefunden hatte. Es erübrigt uns daran noch die starke Krümmung nach Aussen in’s Auge zu fassen. Diese Krüm- mung konnte sich naturgemäss bloss an den freien Halbpalmetten so energisch äussern; es ist aber wichtig zu ver- merken, dass auch die unfreien Halb- palmetten die Neigung zeigen, den Scheitel umzubiegen. Es ist der Geist der gesprengten Palmette, der sich darin ausdrückt, und dem allerdings an der [Abbildung Fig. 126. Gemaltes griechisches Rankenornament.] unfreien Halbpalmette schon durch die undulirende Bewegung der Ranke Vorschub geleistet wurde. Ein sehr lehrreiches Beispiel für die Tendenz der Halbpalmetten nach einer Krümmung ihrer Scheitelspitzen nach Aussen bietet auch Fig. 126 53), wo übrigens der Fächer der mittleren Halbpalmetten durch Unterdrückung der einzelnen Blätter zu einem sphärischen Dreieck zusammengezogen und dadurch fast arabesk geometrisirt erscheint. Die Wichtigkeit die wir der Gestaltung des Palmettenrankenorna- ments, wie sie uns in Fig. 125 entgegentritt, nach dem Gesagten bei- messen müssen, dürfte es rechtfertigen, wenn in Fig. 127 54) noch ein 53) Nach Owen Jones XX. 1. 54) Von einer attischen Lekythos im k. k. österreich. Museum f. Kunst u. Indust., Kat. No. 370. — Die Redaction dieses Kataloges durch Dr. K. Masner (Die Sammlung antiker Vasen und Terrakotten im k. k. österr. Museum, Wien

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/271>, abgerufen am 12.05.2024.