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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem sich dann die obere centrale Palmette erhebt -- wendet sie sich
nach rechts und biegt nach abwärts um, indem sie zugleich einen
Spiralschössling entsendet. In den Zwickel zwischen dem letzteren und
der Hauptranke selbst ist der Fächer einer Halbpalmette eingezeichnet,
deren (halben) Kelch eben der erwähnte Spiralschössling bildet. Gewiss
ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Halbpalmettenfächers bloss die-
jenige einer accessorischen Zwickelfüllung gewesen. Aber im vorliegen-
den Falle ist das Verhältniss zwischen Spiralkelch und Fächer bereits ein
so entsprechend gewähltes, drängt sich die Konfiguration einer Halb-
palmette dem Auge bereits so zwingend auf, dass wir unmöglich an-
nehmen können, es wäre dies dem Vasenmaler entgangen und von ihm
nicht beabsichtigt gewesen. Aber verfolgen wir die Fortsetzung: die
Ranke läuft von der Spitze (dem Scheitel) der eben konstatirten Halb-
palmette weiter, biegt wieder nach aufwärts um, bildet zuerst eine
neuerliche Halbpalmette, umschreibt dann eine volle Palmette und
endigt in eine freie Halbpalmette mit verdicktem und energisch aus-
wärts gekrümmten Scheitel.

Zweierlei haben wir aus dem Gesagten besonders zu vermerken.
Erstlich den Umstand, dass so augenscheinliche, vegetabilische Blüthen-
oder Blattmotive wie die Halbpalmetten an eine Ranke in der Weise
angesetzt werden, dass sie nicht die freien Endigungen bilden, sondern
von ihren Spitzen oder Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin be-
kundet sich ein entschiedenes Abweichen von einem Grund-
gesetze der Natur
, nach welchem die Blätter und Blüthen regel-
mässig die Bekrönung der Stiele bilden. Zweifellos hat die Ornamentik
das Recht zu solchen Abweichungen, aber es ist doch überaus wichtig
zu beobachten, wann und in welcher Weise dies zuerst geschehen ist.
Ein rein künstlerischer Process ist es augenscheinlich gewesen, der
dazu geführt hat. Wir haben das Maass der Berücksichtigung des
Postulats der Zwickelfüllung bei allen antiken Künsten, von der
egyptischen Kunst angefangen, verfolgt, und es kann keinen Zweifel
leiden, dass dieses Postulat allmälig zur Herausbildung der unfreien
Halbpalmette, wie wir sie nennen wollen, geführt hat. Ich glaube auch
nicht, dass der Vasenmaler von Fig. 125 sich den Sachverhalt so ge-
dacht hat, dass in der That die Spitze, das Scheitelende der Halb-
palmette den Ausgangspunkt für die weiterlaufende Ranke bilden sollte.
Den strikten Beweis hiefür werden wir an der Hand der plastisch-
perspektivischen Halbpalmette, d. i. des Akanthushalbblatts führen
können, das ursprünglich geradezu daraufhin stilisirt worden ist, um

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem sich dann die obere centrale Palmette erhebt — wendet sie sich
nach rechts und biegt nach abwärts um, indem sie zugleich einen
Spiralschössling entsendet. In den Zwickel zwischen dem letzteren und
der Hauptranke selbst ist der Fächer einer Halbpalmette eingezeichnet,
deren (halben) Kelch eben der erwähnte Spiralschössling bildet. Gewiss
ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Halbpalmettenfächers bloss die-
jenige einer accessorischen Zwickelfüllung gewesen. Aber im vorliegen-
den Falle ist das Verhältniss zwischen Spiralkelch und Fächer bereits ein
so entsprechend gewähltes, drängt sich die Konfiguration einer Halb-
palmette dem Auge bereits so zwingend auf, dass wir unmöglich an-
nehmen können, es wäre dies dem Vasenmaler entgangen und von ihm
nicht beabsichtigt gewesen. Aber verfolgen wir die Fortsetzung: die
Ranke läuft von der Spitze (dem Scheitel) der eben konstatirten Halb-
palmette weiter, biegt wieder nach aufwärts um, bildet zuerst eine
neuerliche Halbpalmette, umschreibt dann eine volle Palmette und
endigt in eine freie Halbpalmette mit verdicktem und energisch aus-
wärts gekrümmten Scheitel.

Zweierlei haben wir aus dem Gesagten besonders zu vermerken.
Erstlich den Umstand, dass so augenscheinliche, vegetabilische Blüthen-
oder Blattmotive wie die Halbpalmetten an eine Ranke in der Weise
angesetzt werden, dass sie nicht die freien Endigungen bilden, sondern
von ihren Spitzen oder Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin be-
kundet sich ein entschiedenes Abweichen von einem Grund-
gesetze der Natur
, nach welchem die Blätter und Blüthen regel-
mässig die Bekrönung der Stiele bilden. Zweifellos hat die Ornamentik
das Recht zu solchen Abweichungen, aber es ist doch überaus wichtig
zu beobachten, wann und in welcher Weise dies zuerst geschehen ist.
Ein rein künstlerischer Process ist es augenscheinlich gewesen, der
dazu geführt hat. Wir haben das Maass der Berücksichtigung des
Postulats der Zwickelfüllung bei allen antiken Künsten, von der
egyptischen Kunst angefangen, verfolgt, und es kann keinen Zweifel
leiden, dass dieses Postulat allmälig zur Herausbildung der unfreien
Halbpalmette, wie wir sie nennen wollen, geführt hat. Ich glaube auch
nicht, dass der Vasenmaler von Fig. 125 sich den Sachverhalt so ge-
dacht hat, dass in der That die Spitze, das Scheitelende der Halb-
palmette den Ausgangspunkt für die weiterlaufende Ranke bilden sollte.
Den strikten Beweis hiefür werden wir an der Hand der plastisch-
perspektivischen Halbpalmette, d. i. des Akanthushalbblatts führen
können, das ursprünglich geradezu daraufhin stilisirt worden ist, um

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[244/0270] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. dem sich dann die obere centrale Palmette erhebt — wendet sie sich nach rechts und biegt nach abwärts um, indem sie zugleich einen Spiralschössling entsendet. In den Zwickel zwischen dem letzteren und der Hauptranke selbst ist der Fächer einer Halbpalmette eingezeichnet, deren (halben) Kelch eben der erwähnte Spiralschössling bildet. Gewiss ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Halbpalmettenfächers bloss die- jenige einer accessorischen Zwickelfüllung gewesen. Aber im vorliegen- den Falle ist das Verhältniss zwischen Spiralkelch und Fächer bereits ein so entsprechend gewähltes, drängt sich die Konfiguration einer Halb- palmette dem Auge bereits so zwingend auf, dass wir unmöglich an- nehmen können, es wäre dies dem Vasenmaler entgangen und von ihm nicht beabsichtigt gewesen. Aber verfolgen wir die Fortsetzung: die Ranke läuft von der Spitze (dem Scheitel) der eben konstatirten Halb- palmette weiter, biegt wieder nach aufwärts um, bildet zuerst eine neuerliche Halbpalmette, umschreibt dann eine volle Palmette und endigt in eine freie Halbpalmette mit verdicktem und energisch aus- wärts gekrümmten Scheitel. Zweierlei haben wir aus dem Gesagten besonders zu vermerken. Erstlich den Umstand, dass so augenscheinliche, vegetabilische Blüthen- oder Blattmotive wie die Halbpalmetten an eine Ranke in der Weise angesetzt werden, dass sie nicht die freien Endigungen bilden, sondern von ihren Spitzen oder Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin be- kundet sich ein entschiedenes Abweichen von einem Grund- gesetze der Natur, nach welchem die Blätter und Blüthen regel- mässig die Bekrönung der Stiele bilden. Zweifellos hat die Ornamentik das Recht zu solchen Abweichungen, aber es ist doch überaus wichtig zu beobachten, wann und in welcher Weise dies zuerst geschehen ist. Ein rein künstlerischer Process ist es augenscheinlich gewesen, der dazu geführt hat. Wir haben das Maass der Berücksichtigung des Postulats der Zwickelfüllung bei allen antiken Künsten, von der egyptischen Kunst angefangen, verfolgt, und es kann keinen Zweifel leiden, dass dieses Postulat allmälig zur Herausbildung der unfreien Halbpalmette, wie wir sie nennen wollen, geführt hat. Ich glaube auch nicht, dass der Vasenmaler von Fig. 125 sich den Sachverhalt so ge- dacht hat, dass in der That die Spitze, das Scheitelende der Halb- palmette den Ausgangspunkt für die weiterlaufende Ranke bilden sollte. Den strikten Beweis hiefür werden wir an der Hand der plastisch- perspektivischen Halbpalmette, d. i. des Akanthushalbblatts führen können, das ursprünglich geradezu daraufhin stilisirt worden ist, um

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/270>, abgerufen am 12.05.2024.