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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.

Das eine ist die fortlaufende Wellenranke (Fig. 50)16). Diese besteht
in einer fortlaufenden Wellenlinie, von welcher in der Mitte einer jeden
Auf- oder Abwärtsbewegung eine schwach eingerollte Rankenlinie nach
der entgegengesetzten Richtung (nach rückwärts) abzweigt. An diese
Abzweigungen sind zwar keine Blüthen-, Knospen- oder Blattmotive
angesetzt, aber der vegetabilische Grundcharakter wird völlig klar,
wenn wir Fig. 46 zum Vergleiche heranziehen, wo die gleiche Ranke
an einem Zweige sitzt, der als solcher durch das Epheublatt in un-
zweifelhafter Weise gekennzeichnet erscheint. Auch das auf Taf. VI.
34 der Myken. Thongefässe abgebildete Fragment aus dem Vierten
Grabe dürfte zu einer ähnlichen Wellenranke wie Fig. 50 zu ergänzen
sein. Dass auch die reine geometrische Spirale dieses Schema über-
nommen haben mochte, lag nahe. Wenigstens ein Beispiel hiefür findet
sich bei Schliemann, Mykenä Fig. 460 auf der äussersten Scheibe links
unten (aus dem Ersten Grabe), wofern sich
der Zeichner diesfalls keine willkürliche Frei-
heit gestattet hat. Ja, ich würde mich nicht
einmal viel dagegen sträuben, wenn Jemand
behaupten wollte, dass die egyptische Spirale
den Anstoss zur Schaffung der fortlaufenden
Wellenranke gegeben hat: das Maassgebende
bliebe immer der Umstand, ob die Egypter
selbst, oder die "Mykenäer" es gewesen sind,

[Abbildung] Fig. 51.

Becher aus Megara. Mykenisch.

die diesen entscheidenden Schritt gethan haben. Es ist aber mit Gewiss-
heit anzunehmen, dass auch grössere vegetabilische Einzelmotive auf
fortlaufende Wellenranken aufgereiht worden sind: zum Beweise dessen
betrachte man nur noch einmal Fig. 49, wo der geschwungene Stengel
ja nichts anderes ist als eine Wellenranke, von der die paarweisen
Schaftblätter und die grösseren mit Voluten versehenen Blätter ab-
zweigen; nur konnten sie hier in freierer Bewegung gehalten werden,
weil sie in diesem Falle eben nicht in das schmale Band einer Bordüre
gebannt sind17).


16) Myken. Vasen XII. 79, auf Thera gefunden, von Furtwängler und
Löschcke ihrem zweiten mykenischen Vasenstil zugeschrieben.
17) Man vergl. auch Furtwängler und Löschcke, Myken. Thongefässe
IV. 19: das Hauptmotiv ist in diesem Falle eine Wellenlinie, in deren Keh-
lungen je ein Kreis mit einem eingeschriebenen fächerförmigen Zweige sitzt.
Ferner erblicke ich eine fortlaufende Wellenranke in der Dekoration eines
Bechers aus Megara (Fig. 51), den Löschcke im Arch. Anzeiger 1891, S. 15
1. Mykenisches.

Das eine ist die fortlaufende Wellenranke (Fig. 50)16). Diese besteht
in einer fortlaufenden Wellenlinie, von welcher in der Mitte einer jeden
Auf- oder Abwärtsbewegung eine schwach eingerollte Rankenlinie nach
der entgegengesetzten Richtung (nach rückwärts) abzweigt. An diese
Abzweigungen sind zwar keine Blüthen-, Knospen- oder Blattmotive
angesetzt, aber der vegetabilische Grundcharakter wird völlig klar,
wenn wir Fig. 46 zum Vergleiche heranziehen, wo die gleiche Ranke
an einem Zweige sitzt, der als solcher durch das Epheublatt in un-
zweifelhafter Weise gekennzeichnet erscheint. Auch das auf Taf. VI.
34 der Myken. Thongefässe abgebildete Fragment aus dem Vierten
Grabe dürfte zu einer ähnlichen Wellenranke wie Fig. 50 zu ergänzen
sein. Dass auch die reine geometrische Spirale dieses Schema über-
nommen haben mochte, lag nahe. Wenigstens ein Beispiel hiefür findet
sich bei Schliemann, Mykenä Fig. 460 auf der äussersten Scheibe links
unten (aus dem Ersten Grabe), wofern sich
der Zeichner diesfalls keine willkürliche Frei-
heit gestattet hat. Ja, ich würde mich nicht
einmal viel dagegen sträuben, wenn Jemand
behaupten wollte, dass die egyptische Spirale
den Anstoss zur Schaffung der fortlaufenden
Wellenranke gegeben hat: das Maassgebende
bliebe immer der Umstand, ob die Egypter
selbst, oder die „Mykenäer“ es gewesen sind,

[Abbildung] Fig. 51.

Becher aus Megara. Mykenisch.

die diesen entscheidenden Schritt gethan haben. Es ist aber mit Gewiss-
heit anzunehmen, dass auch grössere vegetabilische Einzelmotive auf
fortlaufende Wellenranken aufgereiht worden sind: zum Beweise dessen
betrachte man nur noch einmal Fig. 49, wo der geschwungene Stengel
ja nichts anderes ist als eine Wellenranke, von der die paarweisen
Schaftblätter und die grösseren mit Voluten versehenen Blätter ab-
zweigen; nur konnten sie hier in freierer Bewegung gehalten werden,
weil sie in diesem Falle eben nicht in das schmale Band einer Bordüre
gebannt sind17).


16) Myken. Vasen XII. 79, auf Thera gefunden, von Furtwängler und
Löschcke ihrem zweiten mykenischen Vasenstil zugeschrieben.
17) Man vergl. auch Furtwängler und Löschcke, Myken. Thongefässe
IV. 19: das Hauptmotiv ist in diesem Falle eine Wellenlinie, in deren Keh-
lungen je ein Kreis mit einem eingeschriebenen fächerförmigen Zweige sitzt.
Ferner erblicke ich eine fortlaufende Wellenranke in der Dekoration eines
Bechers aus Megara (Fig. 51), den Löschcke im Arch. Anzeiger 1891, S. 15
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[121/0147] 1. Mykenisches. Das eine ist die fortlaufende Wellenranke (Fig. 50) 16). Diese besteht in einer fortlaufenden Wellenlinie, von welcher in der Mitte einer jeden Auf- oder Abwärtsbewegung eine schwach eingerollte Rankenlinie nach der entgegengesetzten Richtung (nach rückwärts) abzweigt. An diese Abzweigungen sind zwar keine Blüthen-, Knospen- oder Blattmotive angesetzt, aber der vegetabilische Grundcharakter wird völlig klar, wenn wir Fig. 46 zum Vergleiche heranziehen, wo die gleiche Ranke an einem Zweige sitzt, der als solcher durch das Epheublatt in un- zweifelhafter Weise gekennzeichnet erscheint. Auch das auf Taf. VI. 34 der Myken. Thongefässe abgebildete Fragment aus dem Vierten Grabe dürfte zu einer ähnlichen Wellenranke wie Fig. 50 zu ergänzen sein. Dass auch die reine geometrische Spirale dieses Schema über- nommen haben mochte, lag nahe. Wenigstens ein Beispiel hiefür findet sich bei Schliemann, Mykenä Fig. 460 auf der äussersten Scheibe links unten (aus dem Ersten Grabe), wofern sich der Zeichner diesfalls keine willkürliche Frei- heit gestattet hat. Ja, ich würde mich nicht einmal viel dagegen sträuben, wenn Jemand behaupten wollte, dass die egyptische Spirale den Anstoss zur Schaffung der fortlaufenden Wellenranke gegeben hat: das Maassgebende bliebe immer der Umstand, ob die Egypter selbst, oder die „Mykenäer“ es gewesen sind, [Abbildung Fig. 51. Becher aus Megara. Mykenisch.] die diesen entscheidenden Schritt gethan haben. Es ist aber mit Gewiss- heit anzunehmen, dass auch grössere vegetabilische Einzelmotive auf fortlaufende Wellenranken aufgereiht worden sind: zum Beweise dessen betrachte man nur noch einmal Fig. 49, wo der geschwungene Stengel ja nichts anderes ist als eine Wellenranke, von der die paarweisen Schaftblätter und die grösseren mit Voluten versehenen Blätter ab- zweigen; nur konnten sie hier in freierer Bewegung gehalten werden, weil sie in diesem Falle eben nicht in das schmale Band einer Bordüre gebannt sind 17). 16) Myken. Vasen XII. 79, auf Thera gefunden, von Furtwängler und Löschcke ihrem zweiten mykenischen Vasenstil zugeschrieben. 17) Man vergl. auch Furtwängler und Löschcke, Myken. Thongefässe IV. 19: das Hauptmotiv ist in diesem Falle eine Wellenlinie, in deren Keh- lungen je ein Kreis mit einem eingeschriebenen fächerförmigen Zweige sitzt. Ferner erblicke ich eine fortlaufende Wellenranke in der Dekoration eines Bechers aus Megara (Fig. 51), den Löschcke im Arch. Anzeiger 1891, S. 15

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/147>, abgerufen am 24.11.2024.