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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Die fortlaufende Wellenranke ist in der hellenischen
Kunst eines der allergewöhnlichsten Motive geworden
, und
ist es durch alle folgenden Stile hindurch bis auf den heutigen Tag ge-
blieben. Und doch ist dieselbe in der altorientalischen Kunst
nicht nachweisbar
. Angesichts der Einfachheit des Schemas ist
man versucht an das Ei des Columbus zu denken. Blicken wir aber
zurück auf die altorientalischen Stile, wie diese sich zu analogen Auf-
gaben verhalten haben, so sehen wir deutlich ein, wie nach mannig-
fachem Tasten und Versuchen erst die "mykenischen" Künstler die
erlösende Formel gefunden haben. An der reciproken Gegenüberstel-
lung gereihter Pflanzenmotive haben sich schon die Egypter versucht.
Ihre reifste Schöpfung nach dieser Richtung war der Bogenfries (Fig. 22),
dem sie einen zweiten gegenüberstellten (Fig. 23), um dem Postulat der
Reciprocität, des Aus- und Einwärtsweisens eines Bordürenmusters Genüge
zu leisten. Die Asiaten sind ebenfalls über diese Lösung nicht hinaus-
gekommen18). Erst den "mykenischen" Künstlern gelang es durch die
Erfindung des Schemas der fortlaufenden Wellenranke einerseits die
Einseitigkeit des einfachen Bogenfrieses (Fig. 22), anderseits die unschöne
Steifheit des gedoppelten, sozusagen reciproken Bogenfrieses (Fig. 23)
zu brechen, und die Motive abwechselnd nach oben und unten weisend
auf eine durchlaufende Verbindungslinie aufzureihen. Dagegen hat
man höchst bezeichnendermaassen bis jetzt kein einziges Beispiel eines
vegetabilisch charakterisirten Bogenfrieses in der mykenischen Kunst
gefunden. Es ist dieser Umstand um so bezeichnender, als die Mykenäer
sowohl den Rundbogen als den Spitzbogen in fortlaufender Friesform
sehr wohl gekannt und insbesondere an getriebenen Metallbechern zur

publicirt hat. Löschcke glaubt das Ornament von den Nautilus-Darstellungen
ableiten zu sollen. Ich sehe eine Wellenlinie, in deren Buchten mandelförmige,
seitwärts geschwungene Knospen oder Blätter sitzen, ohne gleichwohl durch
einen Stengel mit der Wellenlinie verbunden zu sein; die kleinen Schlangen-
linien mit Punkt dienen offenbar zum Abschlusse der Zwickel.
18) Bei Perrot und Chipiez a. a. O. III. Fig. 576 D ist ein mit der Wellen-
ranke verziertes Geschmeide abgebildet, das aus Curium stammt und von
Perrot phönikischem Ursprung zugewiesen wird. Dieses Beispiel hat wohl
auch Böhlau im Auge, wenn er (Jahrb. 1888 S. 333) zum böotischen Beispiel
einer Wellenranke (siehe Fig. 80) von kyprisch-griechischen Goldschmiedesachen
spricht, die das in Rede stehende Motiv zur Schau tragen. In Anbetracht
der Vereinzelung und des dem allgemeinen Charakter nach gewiss späten
Entstehungsdatums dieses Geschmeides kann man dasselbe in der That nur
mit Böhlau griechischem Ursprunge zuweisen.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Die fortlaufende Wellenranke ist in der hellenischen
Kunst eines der allergewöhnlichsten Motive geworden
, und
ist es durch alle folgenden Stile hindurch bis auf den heutigen Tag ge-
blieben. Und doch ist dieselbe in der altorientalischen Kunst
nicht nachweisbar
. Angesichts der Einfachheit des Schemas ist
man versucht an das Ei des Columbus zu denken. Blicken wir aber
zurück auf die altorientalischen Stile, wie diese sich zu analogen Auf-
gaben verhalten haben, so sehen wir deutlich ein, wie nach mannig-
fachem Tasten und Versuchen erst die „mykenischen“ Künstler die
erlösende Formel gefunden haben. An der reciproken Gegenüberstel-
lung gereihter Pflanzenmotive haben sich schon die Egypter versucht.
Ihre reifste Schöpfung nach dieser Richtung war der Bogenfries (Fig. 22),
dem sie einen zweiten gegenüberstellten (Fig. 23), um dem Postulat der
Reciprocität, des Aus- und Einwärtsweisens eines Bordürenmusters Genüge
zu leisten. Die Asiaten sind ebenfalls über diese Lösung nicht hinaus-
gekommen18). Erst den „mykenischen“ Künstlern gelang es durch die
Erfindung des Schemas der fortlaufenden Wellenranke einerseits die
Einseitigkeit des einfachen Bogenfrieses (Fig. 22), anderseits die unschöne
Steifheit des gedoppelten, sozusagen reciproken Bogenfrieses (Fig. 23)
zu brechen, und die Motive abwechselnd nach oben und unten weisend
auf eine durchlaufende Verbindungslinie aufzureihen. Dagegen hat
man höchst bezeichnendermaassen bis jetzt kein einziges Beispiel eines
vegetabilisch charakterisirten Bogenfrieses in der mykenischen Kunst
gefunden. Es ist dieser Umstand um so bezeichnender, als die Mykenäer
sowohl den Rundbogen als den Spitzbogen in fortlaufender Friesform
sehr wohl gekannt und insbesondere an getriebenen Metallbechern zur

publicirt hat. Löschcke glaubt das Ornament von den Nautilus-Darstellungen
ableiten zu sollen. Ich sehe eine Wellenlinie, in deren Buchten mandelförmige,
seitwärts geschwungene Knospen oder Blätter sitzen, ohne gleichwohl durch
einen Stengel mit der Wellenlinie verbunden zu sein; die kleinen Schlangen-
linien mit Punkt dienen offenbar zum Abschlusse der Zwickel.
18) Bei Perrot und Chipiez a. a. O. III. Fig. 576 D ist ein mit der Wellen-
ranke verziertes Geschmeide abgebildet, das aus Curium stammt und von
Perrot phönikischem Ursprung zugewiesen wird. Dieses Beispiel hat wohl
auch Böhlau im Auge, wenn er (Jahrb. 1888 S. 333) zum böotischen Beispiel
einer Wellenranke (siehe Fig. 80) von kyprisch-griechischen Goldschmiedesachen
spricht, die das in Rede stehende Motiv zur Schau tragen. In Anbetracht
der Vereinzelung und des dem allgemeinen Charakter nach gewiss späten
Entstehungsdatums dieses Geschmeides kann man dasselbe in der That nur
mit Böhlau griechischem Ursprunge zuweisen.
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[122/0148] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Die fortlaufende Wellenranke ist in der hellenischen Kunst eines der allergewöhnlichsten Motive geworden, und ist es durch alle folgenden Stile hindurch bis auf den heutigen Tag ge- blieben. Und doch ist dieselbe in der altorientalischen Kunst nicht nachweisbar. Angesichts der Einfachheit des Schemas ist man versucht an das Ei des Columbus zu denken. Blicken wir aber zurück auf die altorientalischen Stile, wie diese sich zu analogen Auf- gaben verhalten haben, so sehen wir deutlich ein, wie nach mannig- fachem Tasten und Versuchen erst die „mykenischen“ Künstler die erlösende Formel gefunden haben. An der reciproken Gegenüberstel- lung gereihter Pflanzenmotive haben sich schon die Egypter versucht. Ihre reifste Schöpfung nach dieser Richtung war der Bogenfries (Fig. 22), dem sie einen zweiten gegenüberstellten (Fig. 23), um dem Postulat der Reciprocität, des Aus- und Einwärtsweisens eines Bordürenmusters Genüge zu leisten. Die Asiaten sind ebenfalls über diese Lösung nicht hinaus- gekommen 18). Erst den „mykenischen“ Künstlern gelang es durch die Erfindung des Schemas der fortlaufenden Wellenranke einerseits die Einseitigkeit des einfachen Bogenfrieses (Fig. 22), anderseits die unschöne Steifheit des gedoppelten, sozusagen reciproken Bogenfrieses (Fig. 23) zu brechen, und die Motive abwechselnd nach oben und unten weisend auf eine durchlaufende Verbindungslinie aufzureihen. Dagegen hat man höchst bezeichnendermaassen bis jetzt kein einziges Beispiel eines vegetabilisch charakterisirten Bogenfrieses in der mykenischen Kunst gefunden. Es ist dieser Umstand um so bezeichnender, als die Mykenäer sowohl den Rundbogen als den Spitzbogen in fortlaufender Friesform sehr wohl gekannt und insbesondere an getriebenen Metallbechern zur 17) 18) Bei Perrot und Chipiez a. a. O. III. Fig. 576 D ist ein mit der Wellen- ranke verziertes Geschmeide abgebildet, das aus Curium stammt und von Perrot phönikischem Ursprung zugewiesen wird. Dieses Beispiel hat wohl auch Böhlau im Auge, wenn er (Jahrb. 1888 S. 333) zum böotischen Beispiel einer Wellenranke (siehe Fig. 80) von kyprisch-griechischen Goldschmiedesachen spricht, die das in Rede stehende Motiv zur Schau tragen. In Anbetracht der Vereinzelung und des dem allgemeinen Charakter nach gewiss späten Entstehungsdatums dieses Geschmeides kann man dasselbe in der That nur mit Böhlau griechischem Ursprunge zuweisen. 17) publicirt hat. Löschcke glaubt das Ornament von den Nautilus-Darstellungen ableiten zu sollen. Ich sehe eine Wellenlinie, in deren Buchten mandelförmige, seitwärts geschwungene Knospen oder Blätter sitzen, ohne gleichwohl durch einen Stengel mit der Wellenlinie verbunden zu sein; die kleinen Schlangen- linien mit Punkt dienen offenbar zum Abschlusse der Zwickel.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/148>, abgerufen am 24.11.2024.