rissa, und ihre besondern Umstände herrühre, darin sie sich befand.
Man hat sie gar nicht so vorstellen wollen, als wenn sie in Herrn Lovelace verliebt ge- wesen, sondern nur, daß sie ihn vor andern Mannspersonen leiden können, wenn man dies, als ein von der Liebe unterschiednes Wort, annehmen will. Man glaubt es, eben um sie zum Muster vorzustellen, in der ganzen Ge- schichte allenthalben genug angedeutet zu haben, daß sie den Herrn Lovelace, wegen seines bö- sen Wandels nimmer geheirathet haben würde, wenn sie sich selbst überlassen gewesen wäre; und daß man ihren Untergang hauptsächlich der Verfolgung ihrer Verwandten zuschreiben mußte.
Was man nur gar zu gewöhnlich Liebe nennet, muß vielleicht eben so oft mit einem andern Namen genennet werden. So wie ei- nige Frauenspersonen, und zwar selbst vom Stande, sich bei ihrer so genannten Liebe be- wiesen haben, wären Geilheit und ein Ve- nerischer Trieb keine zu harte Namen, sie an de- ren Stelle zu setzen, so unangenehm sie auch zärtlichen Ohren klingen mögen. Aber laßt uns das Wort Liebe in dem gelindesten und ehr- würdigsten Verstande nehmen, so werden es einige höchst unwarscheinlich finden, daß Cla- rissa fähig gewesen wäre, eine solche Herrschaft über ihre Leidenschaften zu zeigen, als sie in ih- rem Charackter vorzüglich blicken läßt, wenn
sie
riſſa, und ihre beſondern Umſtaͤnde herruͤhre, darin ſie ſich befand.
Man hat ſie gar nicht ſo vorſtellen wollen, als wenn ſie in Herrn Lovelace verliebt ge- weſen, ſondern nur, daß ſie ihn vor andern Mannsperſonen leiden koͤnnen, wenn man dies, als ein von der Liebe unterſchiednes Wort, annehmen will. Man glaubt es, eben um ſie zum Muſter vorzuſtellen, in der ganzen Ge- ſchichte allenthalben genug angedeutet zu haben, daß ſie den Herrn Lovelace, wegen ſeines boͤ- ſen Wandels nimmer geheirathet haben wuͤrde, wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen geweſen waͤre; und daß man ihren Untergang hauptſaͤchlich der Verfolgung ihrer Verwandten zuſchreiben mußte.
Was man nur gar zu gewoͤhnlich Liebe nennet, muß vielleicht eben ſo oft mit einem andern Namen genennet werden. So wie ei- nige Frauensperſonen, und zwar ſelbſt vom Stande, ſich bei ihrer ſo genannten Liebe be- wieſen haben, waͤren Geilheit und ein Ve- neriſcher Trieb keine zu harte Namen, ſie an de- ren Stelle zu ſetzen, ſo unangenehm ſie auch zaͤrtlichen Ohren klingen moͤgen. Aber laßt uns das Wort Liebe in dem gelindeſten und ehr- wuͤrdigſten Verſtande nehmen, ſo werden es einige hoͤchſt unwarſcheinlich finden, daß Cla- riſſa faͤhig geweſen waͤre, eine ſolche Herrſchaft uͤber ihre Leidenſchaften zu zeigen, als ſie in ih- rem Charackter vorzuͤglich blicken laͤßt, wenn
ſie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0355"n="347"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
riſſa, und ihre beſondern Umſtaͤnde herruͤhre,<lb/>
darin ſie ſich befand.</p><lb/><p>Man hat ſie gar nicht ſo vorſtellen wollen,<lb/>
als wenn ſie in Herrn <hirendition="#fr">Lovelace</hi> verliebt ge-<lb/>
weſen, ſondern nur, daß ſie ihn vor andern<lb/>
Mannsperſonen <hirendition="#fr">leiden</hi> koͤnnen, wenn man<lb/>
dies, als ein von der Liebe unterſchiednes Wort,<lb/>
annehmen will. Man glaubt es, eben um ſie<lb/>
zum Muſter vorzuſtellen, in der ganzen Ge-<lb/>ſchichte allenthalben genug angedeutet zu haben,<lb/>
daß ſie den Herrn <hirendition="#fr">Lovelace,</hi> wegen ſeines boͤ-<lb/>ſen Wandels nimmer geheirathet haben wuͤrde,<lb/>
wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen geweſen waͤre;<lb/>
und daß man ihren Untergang hauptſaͤchlich<lb/>
der Verfolgung ihrer Verwandten zuſchreiben<lb/>
mußte.</p><lb/><p>Was man nur gar zu gewoͤhnlich <hirendition="#fr">Liebe</hi><lb/>
nennet, muß vielleicht eben ſo oft mit einem<lb/>
andern Namen genennet werden. So wie ei-<lb/>
nige Frauensperſonen, und zwar ſelbſt vom<lb/>
Stande, ſich bei ihrer ſo genannten Liebe be-<lb/>
wieſen haben, waͤren <hirendition="#fr">Geilheit</hi> und ein <hirendition="#fr">Ve-<lb/>
neriſcher Trieb</hi> keine zu harte Namen, ſie an de-<lb/>
ren Stelle zu ſetzen, ſo unangenehm ſie auch<lb/>
zaͤrtlichen Ohren klingen moͤgen. Aber laßt uns<lb/>
das Wort <hirendition="#fr">Liebe</hi> in dem gelindeſten und ehr-<lb/>
wuͤrdigſten Verſtande nehmen, ſo werden es<lb/>
einige hoͤchſt unwarſcheinlich finden, daß <hirendition="#fr">Cla-<lb/>
riſſa</hi> faͤhig geweſen waͤre, eine ſolche Herrſchaft<lb/>
uͤber ihre Leidenſchaften zu zeigen, als ſie in ih-<lb/>
rem Charackter vorzuͤglich blicken laͤßt, wenn<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſie</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[347/0355]
riſſa, und ihre beſondern Umſtaͤnde herruͤhre,
darin ſie ſich befand.
Man hat ſie gar nicht ſo vorſtellen wollen,
als wenn ſie in Herrn Lovelace verliebt ge-
weſen, ſondern nur, daß ſie ihn vor andern
Mannsperſonen leiden koͤnnen, wenn man
dies, als ein von der Liebe unterſchiednes Wort,
annehmen will. Man glaubt es, eben um ſie
zum Muſter vorzuſtellen, in der ganzen Ge-
ſchichte allenthalben genug angedeutet zu haben,
daß ſie den Herrn Lovelace, wegen ſeines boͤ-
ſen Wandels nimmer geheirathet haben wuͤrde,
wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen geweſen waͤre;
und daß man ihren Untergang hauptſaͤchlich
der Verfolgung ihrer Verwandten zuſchreiben
mußte.
Was man nur gar zu gewoͤhnlich Liebe
nennet, muß vielleicht eben ſo oft mit einem
andern Namen genennet werden. So wie ei-
nige Frauensperſonen, und zwar ſelbſt vom
Stande, ſich bei ihrer ſo genannten Liebe be-
wieſen haben, waͤren Geilheit und ein Ve-
neriſcher Trieb keine zu harte Namen, ſie an de-
ren Stelle zu ſetzen, ſo unangenehm ſie auch
zaͤrtlichen Ohren klingen moͤgen. Aber laßt uns
das Wort Liebe in dem gelindeſten und ehr-
wuͤrdigſten Verſtande nehmen, ſo werden es
einige hoͤchſt unwarſcheinlich finden, daß Cla-
riſſa faͤhig geweſen waͤre, eine ſolche Herrſchaft
uͤber ihre Leidenſchaften zu zeigen, als ſie in ih-
rem Charackter vorzuͤglich blicken laͤßt, wenn
ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/355>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.