Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.

Bild:
<< vorherige Seite



Mühe, und vielleicht mit dem sechsten Theil
der Zeit, von ihr so weit übertroffen sahe.

Gleichwol besaß dies bewundernswürdige
Frauenzimmer alle die häuslichen Eigenschaf-
ten, ohne die geringste Mischung von Karg-
heit. Sie wuste zwischen der nöthigen Tugend,
der Sparsamkeit, und dem heslichen Laster,
der Knickerey, das Mittel zu treffen, und
pflegte zu sagen: "Wenn man die wahre Frei-
"gebigkeit beschreiben wollte, so müßte sie die
"glückliche Mittelstrasse zwischen der Sparsam-
"keit und Verschwendung genannt werden."

Sie war die angenehmste Leserin, die ich
kenne. Wenn sie ihren Freundinnen vorlas,
so verschönerte sie durch ihre wolklingende Stim-
me die schönen Stellen in einem Buche, und
wußte auch selbst die Stellen angenehm und
bedeutend zu machen, wo sie keine Schönhei-
ten fand. Jhre Stimme hatte nichts Singen-
des und nichts Weinendes. Sie setzte den Ton
allemal vortreflich, und gab, wo es die Sa-
che erfoderte, einer jeden Stelle ihren gehöri-
gen Nachdruck. Sie ließ sich durch keine präch-
tige oder bewegliche Stellen in den Trauerspie-
len verführen, und doch blieb die Poesie eine
wahre Poesie, wenn sie sie las.

Aber wenn ihre Stimme wolklingend war,
wenn sie las, so war sie lauter Harmonte,
wenn sie sang. Und das Vergnügen, mit
welchem man ihre fertigen Läufe anhörete, ward
durch die Annehmlichkeit ihrer Minen und Ma-

nieren,



Muͤhe, und vielleicht mit dem ſechsten Theil
der Zeit, von ihr ſo weit uͤbertroffen ſahe.

Gleichwol beſaß dies bewundernswuͤrdige
Frauenzimmer alle die haͤuslichen Eigenſchaf-
ten, ohne die geringſte Miſchung von Karg-
heit. Sie wuſte zwiſchen der noͤthigen Tugend,
der Sparſamkeit, und dem heslichen Laſter,
der Knickerey, das Mittel zu treffen, und
pflegte zu ſagen: „Wenn man die wahre Frei-
„gebigkeit beſchreiben wollte, ſo muͤßte ſie die
„gluͤckliche Mittelſtraſſe zwiſchen der Sparſam-
„keit und Verſchwendung genannt werden.”

Sie war die angenehmſte Leſerin, die ich
kenne. Wenn ſie ihren Freundinnen vorlas,
ſo verſchoͤnerte ſie durch ihre wolklingende Stim-
me die ſchoͤnen Stellen in einem Buche, und
wußte auch ſelbſt die Stellen angenehm und
bedeutend zu machen, wo ſie keine Schoͤnhei-
ten fand. Jhre Stimme hatte nichts Singen-
des und nichts Weinendes. Sie ſetzte den Ton
allemal vortreflich, und gab, wo es die Sa-
che erfoderte, einer jeden Stelle ihren gehoͤri-
gen Nachdruck. Sie ließ ſich durch keine praͤch-
tige oder bewegliche Stellen in den Trauerſpie-
len verfuͤhren, und doch blieb die Poeſie eine
wahre Poeſie, wenn ſie ſie las.

Aber wenn ihre Stimme wolklingend war,
wenn ſie las, ſo war ſie lauter Harmonte,
wenn ſie ſang. Und das Vergnuͤgen, mit
welchem man ihre fertigen Laͤufe anhoͤrete, ward
durch die Annehmlichkeit ihrer Minen und Ma-

nieren,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0293" n="285"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Mu&#x0364;he, und vielleicht mit dem &#x017F;echsten Theil<lb/>
der Zeit, von ihr &#x017F;o weit u&#x0364;bertroffen &#x017F;ahe.</p><lb/>
          <p>Gleichwol be&#x017F;aß dies bewundernswu&#x0364;rdige<lb/>
Frauenzimmer alle die ha&#x0364;uslichen Eigen&#x017F;chaf-<lb/>
ten, ohne die gering&#x017F;te Mi&#x017F;chung von Karg-<lb/>
heit. Sie wu&#x017F;te zwi&#x017F;chen der no&#x0364;thigen Tugend,<lb/>
der <hi rendition="#fr">Spar&#x017F;amkeit,</hi> und dem heslichen La&#x017F;ter,<lb/>
der <hi rendition="#fr">Knickerey,</hi> das Mittel zu treffen, und<lb/>
pflegte zu &#x017F;agen: &#x201E;Wenn man die wahre Frei-<lb/>
&#x201E;gebigkeit be&#x017F;chreiben wollte, &#x017F;o mu&#x0364;ßte &#x017F;ie die<lb/>
&#x201E;glu&#x0364;ckliche Mittel&#x017F;tra&#x017F;&#x017F;e zwi&#x017F;chen der Spar&#x017F;am-<lb/>
&#x201E;keit und Ver&#x017F;chwendung genannt werden.&#x201D;</p><lb/>
          <p>Sie war die angenehm&#x017F;te <hi rendition="#fr">Le&#x017F;erin,</hi> die ich<lb/>
kenne. Wenn &#x017F;ie ihren Freundinnen vorlas,<lb/>
&#x017F;o ver&#x017F;cho&#x0364;nerte &#x017F;ie durch ihre wolklingende Stim-<lb/>
me die &#x017F;cho&#x0364;nen Stellen in einem Buche, und<lb/>
wußte auch &#x017F;elb&#x017F;t die Stellen angenehm und<lb/>
bedeutend zu machen, wo &#x017F;ie keine Scho&#x0364;nhei-<lb/>
ten fand. Jhre Stimme hatte nichts Singen-<lb/>
des und nichts Weinendes. Sie &#x017F;etzte den Ton<lb/>
allemal vortreflich, und gab, wo es die Sa-<lb/>
che erfoderte, einer jeden Stelle ihren geho&#x0364;ri-<lb/>
gen Nachdruck. Sie ließ &#x017F;ich durch keine pra&#x0364;ch-<lb/>
tige oder bewegliche Stellen in den Trauer&#x017F;pie-<lb/>
len verfu&#x0364;hren, und doch blieb die Poe&#x017F;ie eine<lb/>
wahre Poe&#x017F;ie, wenn &#x017F;ie &#x017F;ie las.</p><lb/>
          <p>Aber wenn ihre Stimme wolklingend war,<lb/>
wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">las,</hi> &#x017F;o war &#x017F;ie lauter <hi rendition="#fr">Harmonte,</hi><lb/>
wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">&#x017F;ang.</hi> Und das Vergnu&#x0364;gen, mit<lb/>
welchem man ihre fertigen La&#x0364;ufe anho&#x0364;rete, ward<lb/>
durch die Annehmlichkeit ihrer Minen und Ma-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nieren,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0293] Muͤhe, und vielleicht mit dem ſechsten Theil der Zeit, von ihr ſo weit uͤbertroffen ſahe. Gleichwol beſaß dies bewundernswuͤrdige Frauenzimmer alle die haͤuslichen Eigenſchaf- ten, ohne die geringſte Miſchung von Karg- heit. Sie wuſte zwiſchen der noͤthigen Tugend, der Sparſamkeit, und dem heslichen Laſter, der Knickerey, das Mittel zu treffen, und pflegte zu ſagen: „Wenn man die wahre Frei- „gebigkeit beſchreiben wollte, ſo muͤßte ſie die „gluͤckliche Mittelſtraſſe zwiſchen der Sparſam- „keit und Verſchwendung genannt werden.” Sie war die angenehmſte Leſerin, die ich kenne. Wenn ſie ihren Freundinnen vorlas, ſo verſchoͤnerte ſie durch ihre wolklingende Stim- me die ſchoͤnen Stellen in einem Buche, und wußte auch ſelbſt die Stellen angenehm und bedeutend zu machen, wo ſie keine Schoͤnhei- ten fand. Jhre Stimme hatte nichts Singen- des und nichts Weinendes. Sie ſetzte den Ton allemal vortreflich, und gab, wo es die Sa- che erfoderte, einer jeden Stelle ihren gehoͤri- gen Nachdruck. Sie ließ ſich durch keine praͤch- tige oder bewegliche Stellen in den Trauerſpie- len verfuͤhren, und doch blieb die Poeſie eine wahre Poeſie, wenn ſie ſie las. Aber wenn ihre Stimme wolklingend war, wenn ſie las, ſo war ſie lauter Harmonte, wenn ſie ſang. Und das Vergnuͤgen, mit welchem man ihre fertigen Laͤufe anhoͤrete, ward durch die Annehmlichkeit ihrer Minen und Ma- nieren,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/293
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/293>, abgerufen am 04.05.2024.