Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite



"Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet,
"unsers Nächsten Gut zu begehren."

Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes-
werke zugedenken. Jhr Testament giebt Jhnen
die besondere Beschaffenheit derselben einigerma-
ßen zu erkennen. Jn der That, sie hatte in der
klugen Austheilung derselben weder ein Beyspiel
noch ihres gleichen.

Sie können sich in dieser Sache, wo sie sich
auf die besondern Umstände bey Erzählung der-
selben einlassen wollen, bey der Fr. Norton Raths
erhohlen: und wenn ich sehe, was diese Jhnen
mittheilen wird; so werde ich vielleicht noch einen
Zusatz dazu machen.

Jn allem, was sie las, und in ihren Unterre-
dungen darüber, mochte sie lieber Schönheiten,
als Mängel finden. Jedoch pflegte sie zu bekla-
gen, daß gewisse Schriftsteller der ersten Ord-
nung, die im Stande wären, die Tugend zu erhö-
hen, und das Laster zu beschämen, sich nur allzu
oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey
Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver-
standes ankämen, keinen Einfluß hätten, und nichts
zur Erbauung beytrügen, beschäfftigten; bey Sa-
chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo-
gen werden könnte.

Alles, was sie redete und that, war mit einem
natürlich ungezwungenen und erhabenen Wesen
begleitet. Dieß setzte sie über allen angenomme-
nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus.
Denn bey allen ihren trefflichen Vorzügen war sie

williger



„Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet,
„unſers Naͤchſten Gut zu begehren.“

Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes-
werke zugedenken. Jhr Teſtament giebt Jhnen
die beſondere Beſchaffenheit derſelben einigerma-
ßen zu erkennen. Jn der That, ſie hatte in der
klugen Austheilung derſelben weder ein Beyſpiel
noch ihres gleichen.

Sie koͤnnen ſich in dieſer Sache, wo ſie ſich
auf die beſondern Umſtaͤnde bey Erzaͤhlung der-
ſelben einlaſſen wollen, bey der Fr. Norton Raths
erhohlen: und wenn ich ſehe, was dieſe Jhnen
mittheilen wird; ſo werde ich vielleicht noch einen
Zuſatz dazu machen.

Jn allem, was ſie las, und in ihren Unterre-
dungen daruͤber, mochte ſie lieber Schoͤnheiten,
als Maͤngel finden. Jedoch pflegte ſie zu bekla-
gen, daß gewiſſe Schriftſteller der erſten Ord-
nung, die im Stande waͤren, die Tugend zu erhoͤ-
hen, und das Laſter zu beſchaͤmen, ſich nur allzu
oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey
Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver-
ſtandes ankaͤmen, keinen Einfluß haͤtten, und nichts
zur Erbauung beytruͤgen, beſchaͤfftigten; bey Sa-
chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo-
gen werden koͤnnte.

Alles, was ſie redete und that, war mit einem
natuͤrlich ungezwungenen und erhabenen Weſen
begleitet. Dieß ſetzte ſie uͤber allen angenomme-
nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus.
Denn bey allen ihren trefflichen Vorzuͤgen war ſie

williger
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0821" n="815"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201E;Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet,<lb/>
&#x201E;un&#x017F;ers Na&#x0364;ch&#x017F;ten Gut zu begehren.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes-<lb/>
werke zugedenken. Jhr Te&#x017F;tament giebt Jhnen<lb/>
die be&#x017F;ondere Be&#x017F;chaffenheit der&#x017F;elben einigerma-<lb/>
ßen zu erkennen. Jn der That, &#x017F;ie hatte in der<lb/>
klugen Austheilung der&#x017F;elben weder ein Bey&#x017F;piel<lb/>
noch ihres gleichen.</p><lb/>
          <p>Sie ko&#x0364;nnen &#x017F;ich in die&#x017F;er Sache, wo &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
auf die be&#x017F;ondern Um&#x017F;ta&#x0364;nde bey Erza&#x0364;hlung der-<lb/>
&#x017F;elben einla&#x017F;&#x017F;en wollen, bey der Fr. Norton Raths<lb/>
erhohlen: und wenn ich &#x017F;ehe, was die&#x017F;e Jhnen<lb/>
mittheilen wird; &#x017F;o werde ich vielleicht noch einen<lb/>
Zu&#x017F;atz dazu machen.</p><lb/>
          <p>Jn allem, was &#x017F;ie las, und in ihren Unterre-<lb/>
dungen daru&#x0364;ber, mochte &#x017F;ie lieber Scho&#x0364;nheiten,<lb/>
als Ma&#x0364;ngel finden. Jedoch pflegte &#x017F;ie zu bekla-<lb/>
gen, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Schrift&#x017F;teller der er&#x017F;ten Ord-<lb/>
nung, die im Stande wa&#x0364;ren, die Tugend zu erho&#x0364;-<lb/>
hen, und das La&#x017F;ter zu be&#x017F;cha&#x0364;men, &#x017F;ich nur allzu<lb/>
oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey<lb/>
Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver-<lb/>
&#x017F;tandes anka&#x0364;men, keinen Einfluß ha&#x0364;tten, und nichts<lb/>
zur Erbauung beytru&#x0364;gen, be&#x017F;cha&#x0364;fftigten; bey Sa-<lb/>
chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo-<lb/>
gen werden ko&#x0364;nnte.</p><lb/>
          <p>Alles, was &#x017F;ie redete und that, war mit einem<lb/>
natu&#x0364;rlich ungezwungenen und erhabenen We&#x017F;en<lb/>
begleitet. Dieß &#x017F;etzte &#x017F;ie u&#x0364;ber allen angenomme-<lb/>
nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus.<lb/>
Denn bey allen ihren trefflichen Vorzu&#x0364;gen war &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">williger</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[815/0821] „Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet, „unſers Naͤchſten Gut zu begehren.“ Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes- werke zugedenken. Jhr Teſtament giebt Jhnen die beſondere Beſchaffenheit derſelben einigerma- ßen zu erkennen. Jn der That, ſie hatte in der klugen Austheilung derſelben weder ein Beyſpiel noch ihres gleichen. Sie koͤnnen ſich in dieſer Sache, wo ſie ſich auf die beſondern Umſtaͤnde bey Erzaͤhlung der- ſelben einlaſſen wollen, bey der Fr. Norton Raths erhohlen: und wenn ich ſehe, was dieſe Jhnen mittheilen wird; ſo werde ich vielleicht noch einen Zuſatz dazu machen. Jn allem, was ſie las, und in ihren Unterre- dungen daruͤber, mochte ſie lieber Schoͤnheiten, als Maͤngel finden. Jedoch pflegte ſie zu bekla- gen, daß gewiſſe Schriftſteller der erſten Ord- nung, die im Stande waͤren, die Tugend zu erhoͤ- hen, und das Laſter zu beſchaͤmen, ſich nur allzu oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver- ſtandes ankaͤmen, keinen Einfluß haͤtten, und nichts zur Erbauung beytruͤgen, beſchaͤfftigten; bey Sa- chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo- gen werden koͤnnte. Alles, was ſie redete und that, war mit einem natuͤrlich ungezwungenen und erhabenen Weſen begleitet. Dieß ſetzte ſie uͤber allen angenomme- nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus. Denn bey allen ihren trefflichen Vorzuͤgen war ſie williger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/821
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 815. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/821>, abgerufen am 17.05.2024.