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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

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Meynung von ihrer Geschicklichkeit auszubreiten,
als auf das Schreyen der Elenden, zu deren Hül-
fe sie gerufen waren, zu merken: ob sie gleich eben
dadurch, wie der Hund mit dem Schatten in der
Fabel, ihrer gedoppelten Absicht bey mir beraubet
wurden. Denn ich habe mich in einer Regel, die ich
frühe machte, niemals betrogen; daß nämlich die
stillesten Gewässer am tiefesten sind, da hinge-
gen die aufwallenden Ströme nur ein seichtes Was-
ser verrathen, und zu erkennen gebenn, daß Steine
und Kiesel so nahe an ihrer Oberfluche liegen, daß
daselbst der beste Ort angewiesen wird, einen Fluß
trocknes Fußes zu durchwaten.

Weil niemand Lust hatte, dem unglücklichen
Weibe den Erfolg zu hinterbringen, den ein jeder
besorgte, und von dessen naher Bevorstehung mich
die Wundärzte überzeugten: so übernahm ich es,
ihr ihr Urtheil anzukündigen. Daher setzte ich
mich, nachdem die Schneidekünstler weggegangen
waren, auf der Seite an ihr Bette. Wohlan,
Fr. Sinclair, sagte ich, ich muß ihnen den Rath
geben, sich des Tobens über die Sorglosigkeit de-
rer, die damals, wie ich befinde, für sich selbst nicht
sorgen konnten, zu entschlagen, und weil die Sa-
che geschehen ist, und nicht zu ändern stehet, den
Schluß zu fassen, nur so gut, als immer möglich,
dabey zu fahren. Denn alle diese Heftigkeit ver-
mehret nur die Wuth der Krankheit, und sie wer-
den nach der höchsten Wahrscheinlichkeit, wo sie
derselben Raum geben, in eine Raserey verfallen,
welche sie derjenigen Vernunft berauben wird, die

sie



Meynung von ihrer Geſchicklichkeit auszubreiten,
als auf das Schreyen der Elenden, zu deren Huͤl-
fe ſie gerufen waren, zu merken: ob ſie gleich eben
dadurch, wie der Hund mit dem Schatten in der
Fabel, ihrer gedoppelten Abſicht bey mir beraubet
wurden. Denn ich habe mich in einer Regel, die ich
fruͤhe machte, niemals betrogen; daß naͤmlich die
ſtilleſten Gewaͤſſer am tiefeſten ſind, da hinge-
gen die aufwallenden Stroͤme nur ein ſeichtes Waſ-
ſer verrathen, und zu erkennen gebẽn, daß Steine
und Kieſel ſo nahe an ihrer Oberfluche liegen, daß
daſelbſt der beſte Ort angewieſen wird, einen Fluß
trocknes Fußes zu durchwaten.

Weil niemand Luſt hatte, dem ungluͤcklichen
Weibe den Erfolg zu hinterbringen, den ein jeder
beſorgte, und von deſſen naher Bevorſtehung mich
die Wundaͤrzte uͤberzeugten: ſo uͤbernahm ich es,
ihr ihr Urtheil anzukuͤndigen. Daher ſetzte ich
mich, nachdem die Schneidekuͤnſtler weggegangen
waren, auf der Seite an ihr Bette. Wohlan,
Fr. Sinclair, ſagte ich, ich muß ihnen den Rath
geben, ſich des Tobens uͤber die Sorgloſigkeit de-
rer, die damals, wie ich befinde, fuͤr ſich ſelbſt nicht
ſorgen konnten, zu entſchlagen, und weil die Sa-
che geſchehen iſt, und nicht zu aͤndern ſtehet, den
Schluß zu faſſen, nur ſo gut, als immer moͤglich,
dabey zu fahren. Denn alle dieſe Heftigkeit ver-
mehret nur die Wuth der Krankheit, und ſie wer-
den nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit, wo ſie
derſelben Raum geben, in eine Raſerey verfallen,
welche ſie derjenigen Vernunft berauben wird, die

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[554/0560] Meynung von ihrer Geſchicklichkeit auszubreiten, als auf das Schreyen der Elenden, zu deren Huͤl- fe ſie gerufen waren, zu merken: ob ſie gleich eben dadurch, wie der Hund mit dem Schatten in der Fabel, ihrer gedoppelten Abſicht bey mir beraubet wurden. Denn ich habe mich in einer Regel, die ich fruͤhe machte, niemals betrogen; daß naͤmlich die ſtilleſten Gewaͤſſer am tiefeſten ſind, da hinge- gen die aufwallenden Stroͤme nur ein ſeichtes Waſ- ſer verrathen, und zu erkennen gebẽn, daß Steine und Kieſel ſo nahe an ihrer Oberfluche liegen, daß daſelbſt der beſte Ort angewieſen wird, einen Fluß trocknes Fußes zu durchwaten. Weil niemand Luſt hatte, dem ungluͤcklichen Weibe den Erfolg zu hinterbringen, den ein jeder beſorgte, und von deſſen naher Bevorſtehung mich die Wundaͤrzte uͤberzeugten: ſo uͤbernahm ich es, ihr ihr Urtheil anzukuͤndigen. Daher ſetzte ich mich, nachdem die Schneidekuͤnſtler weggegangen waren, auf der Seite an ihr Bette. Wohlan, Fr. Sinclair, ſagte ich, ich muß ihnen den Rath geben, ſich des Tobens uͤber die Sorgloſigkeit de- rer, die damals, wie ich befinde, fuͤr ſich ſelbſt nicht ſorgen konnten, zu entſchlagen, und weil die Sa- che geſchehen iſt, und nicht zu aͤndern ſtehet, den Schluß zu faſſen, nur ſo gut, als immer moͤglich, dabey zu fahren. Denn alle dieſe Heftigkeit ver- mehret nur die Wuth der Krankheit, und ſie wer- den nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit, wo ſie derſelben Raum geben, in eine Raſerey verfallen, welche ſie derjenigen Vernunft berauben wird, die ſie

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/560>, abgerufen am 22.11.2024.