Wort, meine Wertheste, da ich des feinsten und zärtlichsten Umgangs allezeit gewohnt gewesen bin, seit dem ich die Ehre gehabt habe, Sie zu ken- nen, so ist mir dieß Geschlecht von dem Edelman- ne bis auf den Bauren verächtlich.
Ueberhaupt finde ich, daß Herr Morden in besondern Fällen eine sehr geringe Meynung von der Frauenzimmer Tugend hat: weswegen ich ihn, ob er gleich Jhr Günstling ist, für einen er- kläre, der kein Recht hat, den ersten Stein zu werfen.
Jch habe niemals eine Mannsperson gekannt, die verdiente, daß man von ihr wegen ihrer sitt- lichen Grundsätze eine gute Meynung hegte, wel- che von der Tugend unsers Geschlechts überhaupt geringe Gedanken gehabt hätte. Denn wo, we- gen des Unterschieds des Temperaments und der Erziehung, die Sittsamkeit, Keuschheit und Gottseligkeit, ja die letztern auch nach guten Grund- sätzen, in unserm Geschlechte nicht vorzüglich vor dem andern gefunden werden: so möchte ich es für ein Zeichen ansehen, daß die Natur in unserm Geschlechte viel ärger wäre.
Er ließ sich so gar verlauten, jedoch freylich nur als etwas, das von Jhren Verwandten käme, daß es unmöglich sey, daß sich da, wo viele Liebe ist, nicht auch einiges Wollen finden sollte. Der- gleichen Urtheile sind schon hinreichend ein Frau- enzimmer, dem ihre eigne Ehre und die Ehre ih- res Geschlechts am Herzen liegt, dahin zu bringen, daß sie in sich gehet, und bedenket, was sie thut,
wenn
Wort, meine Wertheſte, da ich des feinſten und zaͤrtlichſten Umgangs allezeit gewohnt geweſen bin, ſeit dem ich die Ehre gehabt habe, Sie zu ken- nen, ſo iſt mir dieß Geſchlecht von dem Edelman- ne bis auf den Bauren veraͤchtlich.
Ueberhaupt finde ich, daß Herr Morden in beſondern Faͤllen eine ſehr geringe Meynung von der Frauenzimmer Tugend hat: weswegen ich ihn, ob er gleich Jhr Guͤnſtling iſt, fuͤr einen er- klaͤre, der kein Recht hat, den erſten Stein zu werfen.
Jch habe niemals eine Mannsperſon gekannt, die verdiente, daß man von ihr wegen ihrer ſitt- lichen Grundſaͤtze eine gute Meynung hegte, wel- che von der Tugend unſers Geſchlechts uͤberhaupt geringe Gedanken gehabt haͤtte. Denn wo, we- gen des Unterſchieds des Temperaments und der Erziehung, die Sittſamkeit, Keuſchheit und Gottſeligkeit, ja die letztern auch nach guten Grund- ſaͤtzen, in unſerm Geſchlechte nicht vorzuͤglich vor dem andern gefunden werden: ſo moͤchte ich es fuͤr ein Zeichen anſehen, daß die Natur in unſerm Geſchlechte viel aͤrger waͤre.
Er ließ ſich ſo gar verlauten, jedoch freylich nur als etwas, das von Jhren Verwandten kaͤme, daß es unmoͤglich ſey, daß ſich da, wo viele Liebe iſt, nicht auch einiges Wollen finden ſollte. Der- gleichen Urtheile ſind ſchon hinreichend ein Frau- enzimmer, dem ihre eigne Ehre und die Ehre ih- res Geſchlechts am Herzen liegt, dahin zu bringen, daß ſie in ſich gehet, und bedenket, was ſie thut,
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Wort, meine Wertheſte, da ich des feinſten und
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nen, ſo iſt mir dieß Geſchlecht von dem Edelman-
ne bis auf den Bauren veraͤchtlich.
Ueberhaupt finde ich, daß Herr Morden in
beſondern Faͤllen eine ſehr geringe Meynung von
der Frauenzimmer Tugend hat: weswegen ich
ihn, ob er gleich Jhr Guͤnſtling iſt, fuͤr einen er-
klaͤre, der kein Recht hat, den erſten Stein zu
werfen.
Jch habe niemals eine Mannsperſon gekannt,
die verdiente, daß man von ihr wegen ihrer ſitt-
lichen Grundſaͤtze eine gute Meynung hegte, wel-
che von der Tugend unſers Geſchlechts uͤberhaupt
geringe Gedanken gehabt haͤtte. Denn wo, we-
gen des Unterſchieds des Temperaments und
der Erziehung, die Sittſamkeit, Keuſchheit und
Gottſeligkeit, ja die letztern auch nach guten Grund-
ſaͤtzen, in unſerm Geſchlechte nicht vorzuͤglich vor
dem andern gefunden werden: ſo moͤchte ich es
fuͤr ein Zeichen anſehen, daß die Natur in unſerm
Geſchlechte viel aͤrger waͤre.
Er ließ ſich ſo gar verlauten, jedoch freylich
nur als etwas, das von Jhren Verwandten kaͤme,
daß es unmoͤglich ſey, daß ſich da, wo viele Liebe
iſt, nicht auch einiges Wollen finden ſollte. Der-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/309>, abgerufen am 22.11.2024.
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