Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



mein Herr, sprach sie im Gehen, daß ich unhöf-
lich gegen sie gewesen bin: allein, wenn sie alles
wüßten; so würden sie mir vergeben.

Jch weiß genug, gnädige Fräulein, mich zu
überführen, daß keine so unbefleckte Tugend und
Ehre in irgend einem Frauenzimmer auf der
Welt ist, und keines, mit dem so unmenschlich
umgegangen wäre.

Sie sahe mich sehr ernstlich an. Was sie
denken mochte, das kann ich nicht sagen: aber
überhaupt habe ich niemals so viel Geist in eines
Frauenzimmers Augen gesehen, als in ihren.

Jch befahl meinem Bedienten, der wegen
der Trauer weniger dafür angesehen werden
konnte, und der Fräulein nicht vor Augen gekom-
men war, die Sänfte im Gesichte zu behalten,
und mir Nachricht zu bringen, wie sie sich be-
fände, wenn sie ausstiege. Der Kerl hatte den
Einfall eben in den Laden zu treten, ehe die Sänf-
te hineinkam, unter dem Vorwand, Schnupfta-
back zu kaufen: und also war er im Stande,
mir eine Nachricht zu geben, daß sie von der gu-
ten Frauen im Hause mit großer Freude empfan-
gen worden, und diese ihr gesagt hätte, sie wäre
eben erst zu Hause gekommen und im Begriff
gewesen, ihr in High-Holborn aufzuwarten - -
O Frau Smithen, waren die Worte der Fräu-
lein, so bald sie dieselbe sahe, dachten sie nicht,
daß ich davon gelaufen wäre? - - Sie wissen
nicht, was ich ausgestanden habe, seit dem ich sie zu-
letzt gesehen. Jch bin in einem Gefängnisse ge-

wesen!
Y 2



mein Herr, ſprach ſie im Gehen, daß ich unhoͤf-
lich gegen ſie geweſen bin: allein, wenn ſie alles
wuͤßten; ſo wuͤrden ſie mir vergeben.

Jch weiß genug, gnaͤdige Fraͤulein, mich zu
uͤberfuͤhren, daß keine ſo unbefleckte Tugend und
Ehre in irgend einem Frauenzimmer auf der
Welt iſt, und keines, mit dem ſo unmenſchlich
umgegangen waͤre.

Sie ſahe mich ſehr ernſtlich an. Was ſie
denken mochte, das kann ich nicht ſagen: aber
uͤberhaupt habe ich niemals ſo viel Geiſt in eines
Frauenzimmers Augen geſehen, als in ihren.

Jch befahl meinem Bedienten, der wegen
der Trauer weniger dafuͤr angeſehen werden
konnte, und der Fraͤulein nicht vor Augen gekom-
men war, die Saͤnfte im Geſichte zu behalten,
und mir Nachricht zu bringen, wie ſie ſich be-
faͤnde, wenn ſie ausſtiege. Der Kerl hatte den
Einfall eben in den Laden zu treten, ehe die Saͤnf-
te hineinkam, unter dem Vorwand, Schnupfta-
back zu kaufen: und alſo war er im Stande,
mir eine Nachricht zu geben, daß ſie von der gu-
ten Frauen im Hauſe mit großer Freude empfan-
gen worden, und dieſe ihr geſagt haͤtte, ſie waͤre
eben erſt zu Hauſe gekommen und im Begriff
geweſen, ihr in High-Holborn aufzuwarten ‒ ‒
O Frau Smithen, waren die Worte der Fraͤu-
lein, ſo bald ſie dieſelbe ſahe, dachten ſie nicht,
daß ich davon gelaufen waͤre? ‒ ‒ Sie wiſſen
nicht, was ich ausgeſtanden habe, ſeit dem ich ſie zu-
letzt geſehen. Jch bin in einem Gefaͤngniſſe ge-

weſen!
Y 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0345" n="339"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
mein Herr, &#x017F;prach &#x017F;ie im Gehen, daß ich unho&#x0364;f-<lb/>
lich gegen &#x017F;ie gewe&#x017F;en bin: allein, wenn &#x017F;ie alles<lb/>
wu&#x0364;ßten; &#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;ie mir vergeben.</p><lb/>
          <p>Jch weiß genug, gna&#x0364;dige Fra&#x0364;ulein, mich zu<lb/>
u&#x0364;berfu&#x0364;hren, daß keine &#x017F;o unbefleckte Tugend und<lb/>
Ehre in irgend einem Frauenzimmer auf der<lb/>
Welt i&#x017F;t, und keines, mit dem &#x017F;o unmen&#x017F;chlich<lb/>
umgegangen wa&#x0364;re.</p><lb/>
          <p>Sie &#x017F;ahe mich &#x017F;ehr ern&#x017F;tlich an. Was &#x017F;ie<lb/>
denken mochte, das kann ich nicht &#x017F;agen: aber<lb/>
u&#x0364;berhaupt habe ich niemals &#x017F;o viel Gei&#x017F;t in eines<lb/>
Frauenzimmers Augen ge&#x017F;ehen, als in ihren.</p><lb/>
          <p>Jch befahl meinem Bedienten, der wegen<lb/>
der Trauer weniger dafu&#x0364;r ange&#x017F;ehen werden<lb/>
konnte, und der Fra&#x0364;ulein nicht vor Augen gekom-<lb/>
men war, die Sa&#x0364;nfte im Ge&#x017F;ichte zu behalten,<lb/>
und mir Nachricht zu bringen, wie &#x017F;ie &#x017F;ich be-<lb/>
fa&#x0364;nde, wenn &#x017F;ie aus&#x017F;tiege. Der Kerl hatte den<lb/>
Einfall eben in den Laden zu treten, ehe die Sa&#x0364;nf-<lb/>
te hineinkam, unter dem Vorwand, Schnupfta-<lb/>
back zu kaufen: und al&#x017F;o war er im Stande,<lb/>
mir eine Nachricht zu geben, daß &#x017F;ie von der gu-<lb/>
ten Frauen im Hau&#x017F;e mit großer Freude empfan-<lb/>
gen worden, und die&#x017F;e ihr ge&#x017F;agt ha&#x0364;tte, &#x017F;ie wa&#x0364;re<lb/>
eben er&#x017F;t zu Hau&#x017F;e gekommen und im Begriff<lb/>
gewe&#x017F;en, ihr in High-Holborn aufzuwarten &#x2012; &#x2012;<lb/>
O Frau Smithen, waren die Worte der Fra&#x0364;u-<lb/>
lein, &#x017F;o bald &#x017F;ie die&#x017F;elbe &#x017F;ahe, dachten &#x017F;ie nicht,<lb/>
daß ich davon gelaufen wa&#x0364;re? &#x2012; &#x2012; Sie wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
nicht, was ich ausge&#x017F;tanden habe, &#x017F;eit dem ich &#x017F;ie zu-<lb/>
letzt ge&#x017F;ehen. Jch bin in einem Gefa&#x0364;ngni&#x017F;&#x017F;e ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y 2</fw><fw place="bottom" type="catch">we&#x017F;en!</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0345] mein Herr, ſprach ſie im Gehen, daß ich unhoͤf- lich gegen ſie geweſen bin: allein, wenn ſie alles wuͤßten; ſo wuͤrden ſie mir vergeben. Jch weiß genug, gnaͤdige Fraͤulein, mich zu uͤberfuͤhren, daß keine ſo unbefleckte Tugend und Ehre in irgend einem Frauenzimmer auf der Welt iſt, und keines, mit dem ſo unmenſchlich umgegangen waͤre. Sie ſahe mich ſehr ernſtlich an. Was ſie denken mochte, das kann ich nicht ſagen: aber uͤberhaupt habe ich niemals ſo viel Geiſt in eines Frauenzimmers Augen geſehen, als in ihren. Jch befahl meinem Bedienten, der wegen der Trauer weniger dafuͤr angeſehen werden konnte, und der Fraͤulein nicht vor Augen gekom- men war, die Saͤnfte im Geſichte zu behalten, und mir Nachricht zu bringen, wie ſie ſich be- faͤnde, wenn ſie ausſtiege. Der Kerl hatte den Einfall eben in den Laden zu treten, ehe die Saͤnf- te hineinkam, unter dem Vorwand, Schnupfta- back zu kaufen: und alſo war er im Stande, mir eine Nachricht zu geben, daß ſie von der gu- ten Frauen im Hauſe mit großer Freude empfan- gen worden, und dieſe ihr geſagt haͤtte, ſie waͤre eben erſt zu Hauſe gekommen und im Begriff geweſen, ihr in High-Holborn aufzuwarten ‒ ‒ O Frau Smithen, waren die Worte der Fraͤu- lein, ſo bald ſie dieſelbe ſahe, dachten ſie nicht, daß ich davon gelaufen waͤre? ‒ ‒ Sie wiſſen nicht, was ich ausgeſtanden habe, ſeit dem ich ſie zu- letzt geſehen. Jch bin in einem Gefaͤngniſſe ge- weſen! Y 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/345
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/345>, abgerufen am 25.11.2024.