Lovel. Wie nun, Base Charlotte, fiel ich ihr ins Wort und griff ihr unter das Kinn, woll- ten sie wohl haben, daß ich ihnen alles, was zwi- schen der Fräulein und mir vorgegangen ist, er- zählen sollte? Würden Sie es gern sehen, wenn sie einen dreisten und kühnen Liebhaber hätten, daß ein jeder kleiner Streich von verliebter Schel- merey, den er gegen sie vornähme, unter die Leu- te gebracht würde?
Charlotte ward roth. Alle fingen an aus- zurufen. Jch ließ mich nichts anfechten und setzte meine Vertheidigung fort.
Die Fräulein schreibt: "Sie sey von mir "ihrer Ehre beraubt worden;" Der Teufel hole mich, wo ich meiner schone! "durch solche Mit- "tel, welche die Menschlichkeit beleidigen würden, "wenn man sie erführe." Sie ist ein sehr un- schuldiges Frauenzimmer, und kann über die Mittel, worauf ihre Worte zielen, nicht Richter seyn. Zu viele Zärtlichkeit mag in der That zu wenige Zärtlichkeit seyn. Haben sie nicht etwa ein solches Sprichwort, mein Lord? - - Es ist wohl eben so viel als dieß: Eine Aus- schweifung führt zu der andern! - - Ein solches Frauenzimmer, wie diese Fräulein, mag vielleicht ihre Begebenheit für etwas außeror- dentlichers halten, als sie wirklich ist. So viel will ich über mich nehmen zu behaupten, daß, wo sie an mir die einzige Mannsperson in der Welt gefunden hat, die so mit ihr umgegangen seyn würde, als ich, nach ihrer Sage, mit ihr umge-
gangen
Lovel. Wie nun, Baſe Charlotte, fiel ich ihr ins Wort und griff ihr unter das Kinn, woll- ten ſie wohl haben, daß ich ihnen alles, was zwi- ſchen der Fraͤulein und mir vorgegangen iſt, er- zaͤhlen ſollte? Wuͤrden Sie es gern ſehen, wenn ſie einen dreiſten und kuͤhnen Liebhaber haͤtten, daß ein jeder kleiner Streich von verliebter Schel- merey, den er gegen ſie vornaͤhme, unter die Leu- te gebracht wuͤrde?
Charlotte ward roth. Alle fingen an aus- zurufen. Jch ließ mich nichts anfechten und ſetzte meine Vertheidigung fort.
Die Fraͤulein ſchreibt: „Sie ſey von mir „ihrer Ehre beraubt worden;“ Der Teufel hole mich, wo ich meiner ſchone! „durch ſolche Mit- „tel, welche die Menſchlichkeit beleidigen wuͤrden, „wenn man ſie erfuͤhre.“ Sie iſt ein ſehr un- ſchuldiges Frauenzimmer, und kann uͤber die Mittel, worauf ihre Worte zielen, nicht Richter ſeyn. Zu viele Zaͤrtlichkeit mag in der That zu wenige Zaͤrtlichkeit ſeyn. Haben ſie nicht etwa ein ſolches Sprichwort, mein Lord? ‒ ‒ Es iſt wohl eben ſo viel als dieß: Eine Aus- ſchweifung fuͤhrt zu der andern! ‒ ‒ Ein ſolches Frauenzimmer, wie dieſe Fraͤulein, mag vielleicht ihre Begebenheit fuͤr etwas außeror- dentlichers halten, als ſie wirklich iſt. So viel will ich uͤber mich nehmen zu behaupten, daß, wo ſie an mir die einzige Mannsperſon in der Welt gefunden hat, die ſo mit ihr umgegangen ſeyn wuͤrde, als ich, nach ihrer Sage, mit ihr umge-
gangen
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Lovel. Wie nun, Baſe Charlotte, fiel ich
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zaͤhlen ſollte? Wuͤrden Sie es gern ſehen, wenn
ſie einen dreiſten und kuͤhnen Liebhaber haͤtten,
daß ein jeder kleiner Streich von verliebter Schel-
merey, den er gegen ſie vornaͤhme, unter die Leu-
te gebracht wuͤrde?
Charlotte ward roth. Alle fingen an aus-
zurufen. Jch ließ mich nichts anfechten und
ſetzte meine Vertheidigung fort.
Die Fraͤulein ſchreibt: „Sie ſey von mir
„ihrer Ehre beraubt worden;“ Der Teufel hole
mich, wo ich meiner ſchone! „durch ſolche Mit-
„tel, welche die Menſchlichkeit beleidigen wuͤrden,
„wenn man ſie erfuͤhre.“ Sie iſt ein ſehr un-
ſchuldiges Frauenzimmer, und kann uͤber die
Mittel, worauf ihre Worte zielen, nicht Richter
ſeyn. Zu viele Zaͤrtlichkeit mag in der That
zu wenige Zaͤrtlichkeit ſeyn. Haben ſie nicht
etwa ein ſolches Sprichwort, mein Lord? ‒ ‒
Es iſt wohl eben ſo viel als dieß: Eine Aus-
ſchweifung fuͤhrt zu der andern! ‒ ‒ Ein
ſolches Frauenzimmer, wie dieſe Fraͤulein, mag
vielleicht ihre Begebenheit fuͤr etwas außeror-
dentlichers halten, als ſie wirklich iſt. So viel
will ich uͤber mich nehmen zu behaupten, daß, wo
ſie an mir die einzige Mannsperſon in der Welt
gefunden hat, die ſo mit ihr umgegangen ſeyn
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/214>, abgerufen am 23.11.2024.
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