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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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mich zu meinem größten Verdrusse in meiner
Hoffnung betrogen sehen: wo du es nicht thust.

Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fräu-
lein wohl gegangen seyn? Und wer kann das Un-
glück beschreiben, worinn sie stecken muß?

Nach euren vorigen Briefen ist zu vermu-
then, daß sie sehr wenig Geld übrig haben kann:
und bey der übereilten Flucht kann sie auch nicht
mehrere Kleider haben, als die sie an hat. Du
weißt wohl, wer einmal sagte (*): "Jhre El-
"tern, ihre Onkels wollen sie nicht aufnehmen;
"ihre Frau Norton muß sich nach jenen richten,
"und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hause
"verstatten; die Fräulein Howe wird es sich auch
"nicht unterstehen; in London hat sie keinen
"Freund oder Vertrauten und ist ganz unbekannt
"in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzusetzen:
"Jhrer Ehre ist sie durch denjenigen beraubt, dem
"sie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau-
"send Eidschwüre und Gelübde verbunden war,
"ihr Mann, ihr Beschützer, und Freund zu seyn.

Wie heftig muß sie die unmenschliche Be-
gegnung, die ihr wiederfahren ist, empfinden! Wie
anständig ist es für sie, wie würdig ihrer erhabe-
nen Gemüthsart, daß dadurch die Liebe, die sie
niemals geheget hat, gegen eben denselben Men-
schen in Haß verkehret ist! Daß sie lieber ihre
Entehrung der ganzen Welt kund werden lassen,

als
(*) Siehe den IV. Theil S. 24.



mich zu meinem groͤßten Verdruſſe in meiner
Hoffnung betrogen ſehen: wo du es nicht thuſt.

Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fraͤu-
lein wohl gegangen ſeyn? Und wer kann das Un-
gluͤck beſchreiben, worinn ſie ſtecken muß?

Nach euren vorigen Briefen iſt zu vermu-
then, daß ſie ſehr wenig Geld uͤbrig haben kann:
und bey der uͤbereilten Flucht kann ſie auch nicht
mehrere Kleider haben, als die ſie an hat. Du
weißt wohl, wer einmal ſagte (*): „Jhre El-
„tern, ihre Onkels wollen ſie nicht aufnehmen;
„ihre Frau Norton muß ſich nach jenen richten,
„und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hauſe
„verſtatten; die Fraͤulein Howe wird es ſich auch
„nicht unterſtehen; in London hat ſie keinen
„Freund oder Vertrauten und iſt ganz unbekannt
„in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzuſetzen:
„Jhrer Ehre iſt ſie durch denjenigen beraubt, dem
„ſie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau-
„ſend Eidſchwuͤre und Geluͤbde verbunden war,
„ihr Mann, ihr Beſchuͤtzer, und Freund zu ſeyn.

Wie heftig muß ſie die unmenſchliche Be-
gegnung, die ihr wiederfahren iſt, empfinden! Wie
anſtaͤndig iſt es fuͤr ſie, wie wuͤrdig ihrer erhabe-
nen Gemuͤthsart, daß dadurch die Liebe, die ſie
niemals geheget hat, gegen eben denſelben Men-
ſchen in Haß verkehret iſt! Daß ſie lieber ihre
Entehrung der ganzen Welt kund werden laſſen,

als
(*) Siehe den IV. Theil S. 24.
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[875/0881] mich zu meinem groͤßten Verdruſſe in meiner Hoffnung betrogen ſehen: wo du es nicht thuſt. Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fraͤu- lein wohl gegangen ſeyn? Und wer kann das Un- gluͤck beſchreiben, worinn ſie ſtecken muß? Nach euren vorigen Briefen iſt zu vermu- then, daß ſie ſehr wenig Geld uͤbrig haben kann: und bey der uͤbereilten Flucht kann ſie auch nicht mehrere Kleider haben, als die ſie an hat. Du weißt wohl, wer einmal ſagte (*): „Jhre El- „tern, ihre Onkels wollen ſie nicht aufnehmen; „ihre Frau Norton muß ſich nach jenen richten, „und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hauſe „verſtatten; die Fraͤulein Howe wird es ſich auch „nicht unterſtehen; in London hat ſie keinen „Freund oder Vertrauten und iſt ganz unbekannt „in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzuſetzen: „Jhrer Ehre iſt ſie durch denjenigen beraubt, dem „ſie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau- „ſend Eidſchwuͤre und Geluͤbde verbunden war, „ihr Mann, ihr Beſchuͤtzer, und Freund zu ſeyn. Wie heftig muß ſie die unmenſchliche Be- gegnung, die ihr wiederfahren iſt, empfinden! Wie anſtaͤndig iſt es fuͤr ſie, wie wuͤrdig ihrer erhabe- nen Gemuͤthsart, daß dadurch die Liebe, die ſie niemals geheget hat, gegen eben denſelben Men- ſchen in Haß verkehret iſt! Daß ſie lieber ihre Entehrung der ganzen Welt kund werden laſſen, als (*) Siehe den IV. Theil S. 24.

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 875. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/881>, abgerufen am 22.11.2024.