Scheeren gewahr, und bemüthe sich, sie zu erha- schen, in der Absicht ihr Wort auf der Stelle wahr zu machen.
Weil ich ihre Verzweifelung sahe, bat ich sehr, sie möchte sich beruhigen lassen und mich doch nur ein Wort hören. Jch versicherte, daß ich ihr keine Schande anzuthun willens wäre. Unter- dessen erwischte ich die Scheeren und warf sie in den Camin. Da sie beständig mit vieler Heftig- keit auf meine Entfernung bestand: so ließ ich zu, daß sie sich auf den Stuhl setzte.
Aber, o was für eine angenehme Unordnung! Jhre so unvergleichlich schöne und liebliche Schultern und Arme waren bloß. Jhre ausge- breiteten Hände lagen kreuzweise über ihren an- muthreichen Hals, bedeckten aber dessen glänzende Schönheiten nicht halb. Der enge Rock ließ ihre ganze wundernswürdige Bildung und zarte Glieder sehen: als sie von mir aufstand. Jhre Augen giengen über: allein sie schienen zugleich eine künftige Rache zu drohen. Und endlich äußerten ihre Lippen, was ein jeder unwilliger Blick und alle glüende Gesichtszüge vorbedeutet hatten. Sie riefen über mich aus, als wenn ich das ärgfte, was ich könnte, verübt hätte, und ge- lobten mir nimmer zu vergeben. Wirst du dich wundern, daß ich nicht umhin konnte, die entrü- stete, die bereits allzu sehr gereizte Schöne wieder anzugreiffen?
Jch that es, und drückte sie noch einmal an meine Brust. Aber ihre Stärke war, in Be-
trach-
Scheeren gewahr, und bemuͤthe ſich, ſie zu erha- ſchen, in der Abſicht ihr Wort auf der Stelle wahr zu machen.
Weil ich ihre Verzweifelung ſahe, bat ich ſehr, ſie moͤchte ſich beruhigen laſſen und mich doch nur ein Wort hoͤren. Jch verſicherte, daß ich ihr keine Schande anzuthun willens waͤre. Unter- deſſen erwiſchte ich die Scheeren und warf ſie in den Camin. Da ſie beſtaͤndig mit vieler Heftig- keit auf meine Entfernung beſtand: ſo ließ ich zu, daß ſie ſich auf den Stuhl ſetzte.
Aber, o was fuͤr eine angenehme Unordnung! Jhre ſo unvergleichlich ſchoͤne und liebliche Schultern und Arme waren bloß. Jhre ausge- breiteten Haͤnde lagen kreuzweiſe uͤber ihren an- muthreichen Hals, bedeckten aber deſſen glaͤnzende Schoͤnheiten nicht halb. Der enge Rock ließ ihre ganze wundernswuͤrdige Bildung und zarte Glieder ſehen: als ſie von mir aufſtand. Jhre Augen giengen uͤber: allein ſie ſchienen zugleich eine kuͤnftige Rache zu drohen. Und endlich aͤußerten ihre Lippen, was ein jeder unwilliger Blick und alle gluͤende Geſichtszuͤge vorbedeutet hatten. Sie riefen uͤber mich aus, als wenn ich das aͤrgfte, was ich koͤnnte, veruͤbt haͤtte, und ge- lobten mir nimmer zu vergeben. Wirſt du dich wundern, daß ich nicht umhin konnte, die entruͤ- ſtete, die bereits allzu ſehr gereizte Schoͤne wieder anzugreiffen?
Jch that es, und druͤckte ſie noch einmal an meine Bruſt. Aber ihre Staͤrke war, in Be-
trach-
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Scheeren gewahr, und bemuͤthe ſich, ſie zu erha-
ſchen, in der Abſicht ihr Wort auf der Stelle
wahr zu machen.
Weil ich ihre Verzweifelung ſahe, bat ich ſehr,
ſie moͤchte ſich beruhigen laſſen und mich doch nur
ein Wort hoͤren. Jch verſicherte, daß ich ihr
keine Schande anzuthun willens waͤre. Unter-
deſſen erwiſchte ich die Scheeren und warf ſie in
den Camin. Da ſie beſtaͤndig mit vieler Heftig-
keit auf meine Entfernung beſtand: ſo ließ ich
zu, daß ſie ſich auf den Stuhl ſetzte.
Aber, o was fuͤr eine angenehme Unordnung!
Jhre ſo unvergleichlich ſchoͤne und liebliche
Schultern und Arme waren bloß. Jhre ausge-
breiteten Haͤnde lagen kreuzweiſe uͤber ihren an-
muthreichen Hals, bedeckten aber deſſen glaͤnzende
Schoͤnheiten nicht halb. Der enge Rock ließ
ihre ganze wundernswuͤrdige Bildung und zarte
Glieder ſehen: als ſie von mir aufſtand. Jhre
Augen giengen uͤber: allein ſie ſchienen zugleich
eine kuͤnftige Rache zu drohen. Und endlich
aͤußerten ihre Lippen, was ein jeder unwilliger
Blick und alle gluͤende Geſichtszuͤge vorbedeutet
hatten. Sie riefen uͤber mich aus, als wenn ich
das aͤrgfte, was ich koͤnnte, veruͤbt haͤtte, und ge-
lobten mir nimmer zu vergeben. Wirſt du dich
wundern, daß ich nicht umhin konnte, die entruͤ-
ſtete, die bereits allzu ſehr gereizte Schoͤne wieder
anzugreiffen?
Jch that es, und druͤckte ſie noch einmal an
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/82>, abgerufen am 25.11.2024.
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