ner oder zwo Stunden so wohl zufrieden verlassen hatte. Niemals habe ich einen herbern oder mehr rührenden Schmerz gesehen, als da sie völlig wie- der zu sich selbst kam.
Sie rief den Himmel gegen meine Treulo- sigkeit an, wie sie sich ausdrückte: da ich unter- dessen mit den feyerlichsten Betheurungen mein eignes und gleiches Schrecken und die Wirklich- keit der Gefahr, die uns beyde beunruhiget hätte, zu meiner Vertheidigung vorstellte.
Sie beschwur mich auf die feyerlichste und beweglichste Art, bald drohend, bald schmeichelnd, aus ihrem Zimmer zu gehen und ihr zu vergön- nen, daß sie sich vor dem Tageslichte und vor al- len menschlichen Augen verbergen möchte.
Jch bat sie um Verzeihung: aber ich konnte der Beleidigung nicht entgehen. Jch gelobte von neuem, daß der morgende Tag bey Aufgang der Sonnen ein Zeuge von unserm Verlöbnisse seyn sollte: allein sie sahe, wie ich vermuthe, alle mei- ne Betheurungen von dieser Art für eine Anzeige an, daß ich gesonnen wäre bis aufs äußerste zu gehen und wollte nichts hören, das ich sagte. Sie verdoppelte vielmehr ihr Bestreben von mir los- zukommen, und betheurte mit gebrochnen Tönen und den heftigsten Ausrufungen, daß sie eine so schändliche und ehrenlose Begegnung, wie sie es nannte, nicht überleben wollte. Hierauf sahe sie ganz wild um sich herum, als wenn sie ein Werk- zeug zu dem Unglücke suchte. Sie ward auf ei- nem Stuhle an dem Bette ein paar scharfgespitzte
Scheeren
ner oder zwo Stunden ſo wohl zufrieden verlaſſen hatte. Niemals habe ich einen herbern oder mehr ruͤhrenden Schmerz geſehen, als da ſie voͤllig wie- der zu ſich ſelbſt kam.
Sie rief den Himmel gegen meine Treulo- ſigkeit an, wie ſie ſich ausdruͤckte: da ich unter- deſſen mit den feyerlichſten Betheurungen mein eignes und gleiches Schrecken und die Wirklich- keit der Gefahr, die uns beyde beunruhiget haͤtte, zu meiner Vertheidigung vorſtellte.
Sie beſchwur mich auf die feyerlichſte und beweglichſte Art, bald drohend, bald ſchmeichelnd, aus ihrem Zimmer zu gehen und ihr zu vergoͤn- nen, daß ſie ſich vor dem Tageslichte und vor al- len menſchlichen Augen verbergen moͤchte.
Jch bat ſie um Verzeihung: aber ich konnte der Beleidigung nicht entgehen. Jch gelobte von neuem, daß der morgende Tag bey Aufgang der Sonnen ein Zeuge von unſerm Verloͤbniſſe ſeyn ſollte: allein ſie ſahe, wie ich vermuthe, alle mei- ne Betheurungen von dieſer Art fuͤr eine Anzeige an, daß ich geſonnen waͤre bis aufs aͤußerſte zu gehen und wollte nichts hoͤren, das ich ſagte. Sie verdoppelte vielmehr ihr Beſtreben von mir los- zukommen, und betheurte mit gebrochnen Toͤnen und den heftigſten Ausrufungen, daß ſie eine ſo ſchaͤndliche und ehrenloſe Begegnung, wie ſie es nannte, nicht uͤberleben wollte. Hierauf ſahe ſie ganz wild um ſich herum, als wenn ſie ein Werk- zeug zu dem Ungluͤcke ſuchte. Sie ward auf ei- nem Stuhle an dem Bette ein paar ſcharfgeſpitzte
Scheeren
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ner oder zwo Stunden ſo wohl zufrieden verlaſſen
hatte. Niemals habe ich einen herbern oder mehr
ruͤhrenden Schmerz geſehen, als da ſie voͤllig wie-
der zu ſich ſelbſt kam.
Sie rief den Himmel gegen meine Treulo-
ſigkeit an, wie ſie ſich ausdruͤckte: da ich unter-
deſſen mit den feyerlichſten Betheurungen mein
eignes und gleiches Schrecken und die Wirklich-
keit der Gefahr, die uns beyde beunruhiget haͤtte,
zu meiner Vertheidigung vorſtellte.
Sie beſchwur mich auf die feyerlichſte und
beweglichſte Art, bald drohend, bald ſchmeichelnd,
aus ihrem Zimmer zu gehen und ihr zu vergoͤn-
nen, daß ſie ſich vor dem Tageslichte und vor al-
len menſchlichen Augen verbergen moͤchte.
Jch bat ſie um Verzeihung: aber ich konnte
der Beleidigung nicht entgehen. Jch gelobte von
neuem, daß der morgende Tag bey Aufgang der
Sonnen ein Zeuge von unſerm Verloͤbniſſe ſeyn
ſollte: allein ſie ſahe, wie ich vermuthe, alle mei-
ne Betheurungen von dieſer Art fuͤr eine Anzeige
an, daß ich geſonnen waͤre bis aufs aͤußerſte zu
gehen und wollte nichts hoͤren, das ich ſagte. Sie
verdoppelte vielmehr ihr Beſtreben von mir los-
zukommen, und betheurte mit gebrochnen Toͤnen
und den heftigſten Ausrufungen, daß ſie eine ſo
ſchaͤndliche und ehrenloſe Begegnung, wie ſie es
nannte, nicht uͤberleben wollte. Hierauf ſahe ſie
ganz wild um ſich herum, als wenn ſie ein Werk-
zeug zu dem Ungluͤcke ſuchte. Sie ward auf ei-
nem Stuhle an dem Bette ein paar ſcharfgeſpitzte
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/81>, abgerufen am 25.11.2024.
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