mich bisher genöthiget hatte. Bedenke meine Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be- denke ihre Wachsamkeit und wie lange ich auf der Lauer gewesen war, dieselbe zu betriegen. Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltsin- nige Tugend und übertriebene Bedenklichkeit ge- halten hatte, und daß ich vorher nieWals so glück- lich bey ihr gewesen war. Und denn überlege, wie ausgelassen meine Entzückungen in diesen glücklichen Augenblicken seyn mußten! - Dennoch war ich in meinen Gedanken so wohl von anständi- ger als edelmüthiger Aufführung. Die folgenden Zeilen, welche ich in die erste Person versetzt habe, schicken sich unter allen, worauf ich mich besinnen kann, am besten zu dieser entzückungsvollen Ge- legenheit:
Jch kniete gebückt und zwang mit sanftem Muth Die sträubendschöne Hand mein klopfend Herz zu drücken. Hierüber sunken mir die Lippen vor Entzücken, Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer Fluth. Mein schneller Puls schlug stark bey jedem hei- ßen Kuß, Und jede Sehne brannt in solchem Glücks- Genuß.
Aber weit gefehlt, daß sie durch ein so feuri- ges Bezeigen gerührt werden sollte: ob gleich von einer Mannsperson, gegen welche sie so kurz vorher eine Achtung gestanden und die sie vor ei-
ner
mich bisher genoͤthiget hatte. Bedenke meine Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be- denke ihre Wachſamkeit und wie lange ich auf der Lauer geweſen war, dieſelbe zu betriegen. Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltſin- nige Tugend und uͤbertriebene Bedenklichkeit ge- halten hatte, und daß ich vorher nieɯals ſo gluͤck- lich bey ihr geweſen war. Und denn uͤberlege, wie ausgelaſſen meine Entzuͤckungen in dieſen gluͤcklichen Augenblicken ſeyn mußten! ‒ Dennoch war ich in meinen Gedanken ſo wohl von anſtaͤndi- ger als edelmuͤthiger Auffuͤhrung. Die folgenden Zeilen, welche ich in die erſte Perſon verſetzt habe, ſchicken ſich unter allen, worauf ich mich beſinnen kann, am beſten zu dieſer entzuͤckungsvollen Ge- legenheit:
Jch kniete gebuͤckt und zwang mit ſanftem Muth Die ſtraͤubendſchoͤne Hand mein klopfend Herz zu druͤcken. Hieruͤber ſunken mir die Lippen vor Entzuͤcken, Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer Fluth. Mein ſchneller Puls ſchlug ſtark bey jedem hei- ßen Kuß, Und jede Sehne brannt in ſolchem Gluͤcks- Genuß.
Aber weit gefehlt, daß ſie durch ein ſo feuri- ges Bezeigen geruͤhrt werden ſollte: ob gleich von einer Mannsperſon, gegen welche ſie ſo kurz vorher eine Achtung geſtanden und die ſie vor ei-
ner
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mich bisher genoͤthiget hatte. Bedenke meine
Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be-
denke ihre Wachſamkeit und wie lange ich auf
der Lauer geweſen war, dieſelbe zu betriegen.
Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltſin-
nige Tugend und uͤbertriebene Bedenklichkeit ge-
halten hatte, und daß ich vorher nieɯals ſo gluͤck-
lich bey ihr geweſen war. Und denn uͤberlege,
wie ausgelaſſen meine Entzuͤckungen in dieſen
gluͤcklichen Augenblicken ſeyn mußten! ‒ Dennoch
war ich in meinen Gedanken ſo wohl von anſtaͤndi-
ger als edelmuͤthiger Auffuͤhrung. Die folgenden
Zeilen, welche ich in die erſte Perſon verſetzt habe,
ſchicken ſich unter allen, worauf ich mich beſinnen
kann, am beſten zu dieſer entzuͤckungsvollen Ge-
legenheit:
Jch kniete gebuͤckt und zwang mit ſanftem Muth
Die ſtraͤubendſchoͤne Hand mein klopfend Herz
zu druͤcken.
Hieruͤber ſunken mir die Lippen vor Entzuͤcken,
Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer
Fluth.
Mein ſchneller Puls ſchlug ſtark bey jedem hei-
ßen Kuß,
Und jede Sehne brannt in ſolchem Gluͤcks-
Genuß.
Aber weit gefehlt, daß ſie durch ein ſo feuri-
ges Bezeigen geruͤhrt werden ſollte: ob gleich von
einer Mannsperſon, gegen welche ſie ſo kurz
vorher eine Achtung geſtanden und die ſie vor ei-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/80>, abgerufen am 25.11.2024.
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