tel keinen andern Bewegungsgrund gehabt, als mein Mitleiden. Es konnte auch nichts anders seyn. Denn ein Raub der Jungferschaft, weißt du wohl, ist für uns liederliche Vögel gar keine unangenehme Sache. Nichts als die Gesetze stehen uns hier im Wege: und die Meynung, die ein ehrlicher Bruder von dem hat, was ein scham- haftiges Frauenzimmer lieber leiden, als mit lauter Stimme klagen werde, verringert in die- sem Stücke seine Furcht um ein großes. Wenn hiernächst diese einschläfernde Mittel; ich mag das Wort Schlaftrünke bey dieser Gelegenheit nicht leiden; ihr den Kopf verrücket haben: so ist das eine Wirkung, die sie oft bey einigen Kör- pern wegen derselben Beschaffenheit haben; und in diesem Fall ist es mehr dem Versehen, daß das eigentliche Maaß nicht getroffen worden, als der Absicht desjenigen, der sie eingegeben hat, zuzu- schreiben gewesen.
Allein ist nicht der Wein selbst gewisserma- ßen ein Schlaftrunk? - - Wie viele Weibsleu- te sind durch Wein und andere noch mehr berau- schende Getränke gefangen worden? - - Jch muß dir sagen, Bruder, die Erfahrung vieler Personen von dem Geschlechte, das hier leidet, und das Gewissen noch mehrerer Personen von dem Geschlechte, welches geschäfftig dabey wir- ket, wird Zeugniß geben, wenn man sich darauf beruffet, daß dein Lovelace nicht der ärgste Schelm ist. Jch wollte aber auch nicht gern von dir da-
zu
tel keinen andern Bewegungsgrund gehabt, als mein Mitleiden. Es konnte auch nichts anders ſeyn. Denn ein Raub der Jungferſchaft, weißt du wohl, iſt fuͤr uns liederliche Voͤgel gar keine unangenehme Sache. Nichts als die Geſetze ſtehen uns hier im Wege: und die Meynung, die ein ehrlicher Bruder von dem hat, was ein ſcham- haftiges Frauenzimmer lieber leiden, als mit lauter Stimme klagen werde, verringert in die- ſem Stuͤcke ſeine Furcht um ein großes. Wenn hiernaͤchſt dieſe einſchlaͤfernde Mittel; ich mag das Wort Schlaftruͤnke bey dieſer Gelegenheit nicht leiden; ihr den Kopf verruͤcket haben: ſo iſt das eine Wirkung, die ſie oft bey einigen Koͤr- pern wegen derſelben Beſchaffenheit haben; und in dieſem Fall iſt es mehr dem Verſehen, daß das eigentliche Maaß nicht getroffen worden, als der Abſicht desjenigen, der ſie eingegeben hat, zuzu- ſchreiben geweſen.
Allein iſt nicht der Wein ſelbſt gewiſſerma- ßen ein Schlaftrunk? ‒ ‒ Wie viele Weibsleu- te ſind durch Wein und andere noch mehr berau- ſchende Getraͤnke gefangen worden? ‒ ‒ Jch muß dir ſagen, Bruder, die Erfahrung vieler Perſonen von dem Geſchlechte, das hier leidet, und das Gewiſſen noch mehrerer Perſonen von dem Geſchlechte, welches geſchaͤfftig dabey wir- ket, wird Zeugniß geben, wenn man ſich darauf beruffet, daß dein Lovelace nicht der aͤrgſte Schelm iſt. Jch wollte aber auch nicht gern von dir da-
zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0643"n="637"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
tel keinen andern Bewegungsgrund gehabt, als<lb/><hirendition="#fr">mein Mitleiden.</hi> Es konnte auch nichts anders<lb/>ſeyn. Denn ein Raub der Jungferſchaft, weißt<lb/>
du wohl, iſt fuͤr uns liederliche Voͤgel gar keine<lb/>
unangenehme Sache. Nichts als die Geſetze<lb/>ſtehen uns hier im Wege: und die Meynung, die<lb/>
ein ehrlicher Bruder von dem hat, was ein ſcham-<lb/>
haftiges Frauenzimmer lieber leiden, als mit<lb/><hirendition="#fr">lauter Stimme</hi> klagen werde, verringert in die-<lb/>ſem Stuͤcke ſeine Furcht um ein großes. Wenn<lb/>
hiernaͤchſt dieſe <hirendition="#fr">einſchlaͤfernde Mittel;</hi> ich mag<lb/>
das Wort <hirendition="#fr">Schlaftruͤnke</hi> bey dieſer Gelegenheit<lb/>
nicht leiden; ihr den Kopf verruͤcket haben: ſo<lb/>
iſt das eine Wirkung, die ſie oft bey einigen Koͤr-<lb/>
pern wegen derſelben Beſchaffenheit haben; und<lb/>
in dieſem Fall iſt es mehr dem Verſehen, daß das<lb/>
eigentliche Maaß nicht getroffen worden, als der<lb/>
Abſicht desjenigen, der ſie eingegeben hat, zuzu-<lb/>ſchreiben geweſen.</p><lb/><p>Allein iſt nicht der Wein ſelbſt gewiſſerma-<lb/>
ßen ein Schlaftrunk? ‒‒ Wie viele Weibsleu-<lb/>
te ſind durch Wein und andere noch mehr berau-<lb/>ſchende Getraͤnke gefangen worden? ‒‒ Jch<lb/>
muß dir ſagen, Bruder, die <hirendition="#fr">Erfahrung</hi> vieler<lb/>
Perſonen von dem Geſchlechte, das hier <hirendition="#fr">leidet,</hi><lb/>
und das <hirendition="#fr">Gewiſſen</hi> noch mehrerer Perſonen von<lb/>
dem Geſchlechte, welches <hirendition="#fr">geſchaͤfftig</hi> dabey <hirendition="#fr">wir-<lb/>
ket,</hi> wird Zeugniß geben, wenn man ſich darauf<lb/>
beruffet, daß dein Lovelace nicht der aͤrgſte Schelm<lb/>
iſt. Jch wollte aber auch nicht gern von dir da-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">zu</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[637/0643]
tel keinen andern Bewegungsgrund gehabt, als
mein Mitleiden. Es konnte auch nichts anders
ſeyn. Denn ein Raub der Jungferſchaft, weißt
du wohl, iſt fuͤr uns liederliche Voͤgel gar keine
unangenehme Sache. Nichts als die Geſetze
ſtehen uns hier im Wege: und die Meynung, die
ein ehrlicher Bruder von dem hat, was ein ſcham-
haftiges Frauenzimmer lieber leiden, als mit
lauter Stimme klagen werde, verringert in die-
ſem Stuͤcke ſeine Furcht um ein großes. Wenn
hiernaͤchſt dieſe einſchlaͤfernde Mittel; ich mag
das Wort Schlaftruͤnke bey dieſer Gelegenheit
nicht leiden; ihr den Kopf verruͤcket haben: ſo
iſt das eine Wirkung, die ſie oft bey einigen Koͤr-
pern wegen derſelben Beſchaffenheit haben; und
in dieſem Fall iſt es mehr dem Verſehen, daß das
eigentliche Maaß nicht getroffen worden, als der
Abſicht desjenigen, der ſie eingegeben hat, zuzu-
ſchreiben geweſen.
Allein iſt nicht der Wein ſelbſt gewiſſerma-
ßen ein Schlaftrunk? ‒ ‒ Wie viele Weibsleu-
te ſind durch Wein und andere noch mehr berau-
ſchende Getraͤnke gefangen worden? ‒ ‒ Jch
muß dir ſagen, Bruder, die Erfahrung vieler
Perſonen von dem Geſchlechte, das hier leidet,
und das Gewiſſen noch mehrerer Perſonen von
dem Geſchlechte, welches geſchaͤfftig dabey wir-
ket, wird Zeugniß geben, wenn man ſich darauf
beruffet, daß dein Lovelace nicht der aͤrgſte Schelm
iſt. Jch wollte aber auch nicht gern von dir da-
zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/643>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.