zu geben, als zu nehmen. Er untersteht sich, nach- dem er eine Zeitlang in ihrer Gesellschaft gewesen ist, über etwas mit ihr zu streiten: - - da hingegen der andern alles zugegeben wird; ob gleich keine gebieterische oder lehrende Miene es erzwinget.
Kurz, bey der Fräulein Howe sieht ein dreister Mensch; sonder Zweifel hat es auch Herr George Colmar gesehen; daß er und sie entweder sehr bald mit einander vertraut seyn können; ich verstehe es auf eine unschuldige Art; oder er ihr so misfällig werden mag, daß er auf ewig von ihrer Gegenwart verbannet seyn muß.
Da ich selbst das erste mal zu dieser Fräulein geführet wurde; welches von meiner Göttinn ge- schahe, indem sie einen Besuch bey der Fräulein Howe ablegte; so war ich noch nicht eine halbe Stunde bey ihr gewesen, als mich schon recht hun- gerte und durstete, mit diesem lebhaften und schel- mischen Mägdchen ein Fest zu haben. Bey dem andern und dritten Besuche ward ich mehr durch die zärtliche Gemüthsart ihrer Freundinn, als durch das, was ich von ihr selbst besorgete, abgeschrecket. Die Gegenwart dieser reizenden Schönen, wie es mir vorkam, hielte uns beyde in Furcht. Jch wünschte, daß sie nicht da seyn möchte, wenn auch alle andern Frauenzimmer gegenwärtig wären, da- mit ich den Unterschied in der Aufführung der Fräu- lein Howe vor den Augen ihrer Freundinn, und hinter ihrem Rücken durch eine Probe erfahren möchte.
Frauenzimmer von zärtlicher Tugend machen so wohl, daß andere Frauenzimmer auch eine zärt- liche Tugend beobachten, als daß die Mannspersonen bescheiden sind und den Wohlstand nicht verletzen. Bey allem Feuer und Geist der Fräulein Howe war es doch leicht selbst an ihrem Auge zu sehen, daß sie von dem durchdringenden Auge ihrer weit sanf-
ter-
L l 4
zu geben, als zu nehmen. Er unterſteht ſich, nach- dem er eine Zeitlang in ihrer Geſellſchaft geweſen iſt, uͤber etwas mit ihr zu ſtreiten: ‒ ‒ da hingegen der andern alles zugegeben wird; ob gleich keine gebieteriſche oder lehrende Miene es erzwinget.
Kurz, bey der Fraͤulein Howe ſieht ein dreiſter Menſch; ſonder Zweifel hat es auch Herr George Colmar geſehen; daß er und ſie entweder ſehr bald mit einander vertraut ſeyn koͤnnen; ich verſtehe es auf eine unſchuldige Art; oder er ihr ſo misfaͤllig werden mag, daß er auf ewig von ihrer Gegenwart verbannet ſeyn muß.
Da ich ſelbſt das erſte mal zu dieſer Fraͤulein gefuͤhret wurde; welches von meiner Goͤttinn ge- ſchahe, indem ſie einen Beſuch bey der Fraͤulein Howe ablegte; ſo war ich noch nicht eine halbe Stunde bey ihr geweſen, als mich ſchon recht hun- gerte und durſtete, mit dieſem lebhaften und ſchel- miſchen Maͤgdchen ein Feſt zu haben. Bey dem andern und dritten Beſuche ward ich mehr durch die zaͤrtliche Gemuͤthsart ihrer Freundinn, als durch das, was ich von ihr ſelbſt beſorgete, abgeſchrecket. Die Gegenwart dieſer reizenden Schoͤnen, wie es mir vorkam, hielte uns beyde in Furcht. Jch wuͤnſchte, daß ſie nicht da ſeyn moͤchte, wenn auch alle andern Frauenzimmer gegenwaͤrtig waͤren, da- mit ich den Unterſchied in der Auffuͤhrung der Fraͤu- lein Howe vor den Augen ihrer Freundinn, und hinter ihrem Ruͤcken durch eine Probe erfahren moͤchte.
Frauenzimmer von zaͤrtlicher Tugend machen ſo wohl, daß andere Frauenzimmer auch eine zaͤrt- liche Tugend beobachten, als daß die Mannsperſonen beſcheiden ſind und den Wohlſtand nicht verletzen. Bey allem Feuer und Geiſt der Fraͤulein Howe war es doch leicht ſelbſt an ihrem Auge zu ſehen, daß ſie von dem durchdringenden Auge ihrer weit ſanf-
ter-
L l 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0541"n="535"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
zu <hirendition="#fr">geben,</hi> als zu <hirendition="#fr">nehmen.</hi> Er unterſteht ſich, nach-<lb/>
dem er eine Zeitlang in ihrer Geſellſchaft geweſen<lb/>
iſt, uͤber etwas mit ihr zu ſtreiten: ‒‒ da hingegen<lb/>
der andern alles zugegeben wird; ob gleich keine<lb/>
gebieteriſche oder lehrende Miene es erzwinget.</p><lb/><p>Kurz, bey der Fraͤulein Howe ſieht ein dreiſter<lb/>
Menſch; ſonder Zweifel hat es auch Herr George<lb/>
Colmar geſehen; daß er und ſie entweder ſehr bald<lb/>
mit einander vertraut ſeyn koͤnnen; ich verſtehe es<lb/>
auf eine unſchuldige Art; oder er ihr ſo misfaͤllig<lb/>
werden mag, daß er auf ewig von ihrer Gegenwart<lb/>
verbannet ſeyn muß.</p><lb/><p>Da ich ſelbſt das erſte mal zu dieſer Fraͤulein<lb/>
gefuͤhret wurde; welches von meiner Goͤttinn ge-<lb/>ſchahe, indem ſie einen Beſuch bey der Fraͤulein<lb/>
Howe ablegte; ſo war ich noch nicht eine halbe<lb/>
Stunde bey ihr geweſen, als mich ſchon recht hun-<lb/>
gerte und durſtete, mit dieſem lebhaften und ſchel-<lb/>
miſchen Maͤgdchen ein Feſt zu haben. Bey dem<lb/>
andern und dritten Beſuche ward ich mehr durch<lb/>
die zaͤrtliche Gemuͤthsart ihrer Freundinn, als durch<lb/>
das, was ich von ihr ſelbſt beſorgete, abgeſchrecket.<lb/>
Die Gegenwart dieſer reizenden Schoͤnen, wie es<lb/>
mir vorkam, hielte uns beyde in Furcht. Jch<lb/>
wuͤnſchte, daß ſie nicht da ſeyn moͤchte, wenn auch<lb/>
alle andern Frauenzimmer gegenwaͤrtig waͤren, da-<lb/>
mit ich den Unterſchied in der Auffuͤhrung der Fraͤu-<lb/>
lein Howe vor den Augen ihrer Freundinn, und<lb/>
hinter ihrem Ruͤcken durch eine Probe erfahren<lb/>
moͤchte.</p><lb/><p>Frauenzimmer von zaͤrtlicher Tugend machen<lb/>ſo wohl, daß andere Frauenzimmer auch eine zaͤrt-<lb/>
liche Tugend beobachten, als daß die Mannsperſonen<lb/>
beſcheiden ſind und den Wohlſtand nicht verletzen.<lb/>
Bey allem Feuer und Geiſt der Fraͤulein Howe war<lb/>
es doch leicht ſelbſt an ihrem Auge zu ſehen, daß<lb/>ſie von dem durchdringenden Auge ihrer weit ſanf-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">L l 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">ter-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[535/0541]
zu geben, als zu nehmen. Er unterſteht ſich, nach-
dem er eine Zeitlang in ihrer Geſellſchaft geweſen
iſt, uͤber etwas mit ihr zu ſtreiten: ‒ ‒ da hingegen
der andern alles zugegeben wird; ob gleich keine
gebieteriſche oder lehrende Miene es erzwinget.
Kurz, bey der Fraͤulein Howe ſieht ein dreiſter
Menſch; ſonder Zweifel hat es auch Herr George
Colmar geſehen; daß er und ſie entweder ſehr bald
mit einander vertraut ſeyn koͤnnen; ich verſtehe es
auf eine unſchuldige Art; oder er ihr ſo misfaͤllig
werden mag, daß er auf ewig von ihrer Gegenwart
verbannet ſeyn muß.
Da ich ſelbſt das erſte mal zu dieſer Fraͤulein
gefuͤhret wurde; welches von meiner Goͤttinn ge-
ſchahe, indem ſie einen Beſuch bey der Fraͤulein
Howe ablegte; ſo war ich noch nicht eine halbe
Stunde bey ihr geweſen, als mich ſchon recht hun-
gerte und durſtete, mit dieſem lebhaften und ſchel-
miſchen Maͤgdchen ein Feſt zu haben. Bey dem
andern und dritten Beſuche ward ich mehr durch
die zaͤrtliche Gemuͤthsart ihrer Freundinn, als durch
das, was ich von ihr ſelbſt beſorgete, abgeſchrecket.
Die Gegenwart dieſer reizenden Schoͤnen, wie es
mir vorkam, hielte uns beyde in Furcht. Jch
wuͤnſchte, daß ſie nicht da ſeyn moͤchte, wenn auch
alle andern Frauenzimmer gegenwaͤrtig waͤren, da-
mit ich den Unterſchied in der Auffuͤhrung der Fraͤu-
lein Howe vor den Augen ihrer Freundinn, und
hinter ihrem Ruͤcken durch eine Probe erfahren
moͤchte.
Frauenzimmer von zaͤrtlicher Tugend machen
ſo wohl, daß andere Frauenzimmer auch eine zaͤrt-
liche Tugend beobachten, als daß die Mannsperſonen
beſcheiden ſind und den Wohlſtand nicht verletzen.
Bey allem Feuer und Geiſt der Fraͤulein Howe war
es doch leicht ſelbſt an ihrem Auge zu ſehen, daß
ſie von dem durchdringenden Auge ihrer weit ſanf-
ter-
L l 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/541>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.