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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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Laß nur einen Mann oder eine Weibsperson sich
erst bey der Welt in eine gute Meynung setzen: so
wird alles, was der eine oder die andere thut, hei-
lig heißen. Ja hilft nicht selbst vor Gericht der
Ruf bey den Leuten eben so oft als die verübten
Thaten, und bisweilen wohl gar Trotz aller verübten
Thaten, lossprechen oder verdammen? - - Den-
noch habe ich meinen Ruf so wenig geachtet! O wie
sehr habe ich meine Regeln der Klugheit versäumet,
und wie sehr versäume ich sie noch itzo! - - Nun-
mehr ist es schon nicht zu ersetzen: ich zweifle sehr
daran - - Aber wir wollen die Sittenlehre ruhen
lassen.

Du weißt beynahe alle meine Unternehmungen,
Bruder, die denkwürdig sind. Sollte die besondere
Geschichte, worauf dieß Mägdchen zielet, wohl die
Begebenheit mit Lucia Villars seyn können? - -
Oder sollte sie wohl von meinen Streichen mit der
artigen Gypsey, die ich zu Norwood antraf, gehöret
haben, und von der Falle, worinn ich ihren grausa-
men Mann, einen eben so finstern und tyrannischen
Kerl, als der alte Harlowe ist, damals fing, als er
ein Weib verfolgte, daß sich nicht übel um ihn
würde verdient gemacht haben, wenn er sich wohl
um sie verdient gemacht hätte? - - Allein er kam
nicht um den Hals. Der Kerl lebt noch diesen Tag:
und Fräulein Howe gedenket der Historie, als einer
sehr anstößigen Sache Außerdem sind diese beyden Be-
gebenheiten schon zwölf Monathe alt oder noch älter.

Aber böse Gerüchte und ärgerliche Thaten sind
allemal neu. Wenn die beleidigende Person eine
schändliche That schon vergessen hat: so wird sie oft
einem oder dem andern erzählet, der sie noch nicht
gehöret hat, und als etwas neues allenthalben bey
andern ausposaunet. Gar wohl sagte der ehrliche
Richter zu Madrid: des Guten, was jemand thut,
erinnert man sich nur auf einen Tag; aber des

Bösen



Laß nur einen Mann oder eine Weibsperſon ſich
erſt bey der Welt in eine gute Meynung ſetzen: ſo
wird alles, was der eine oder die andere thut, hei-
lig heißen. Ja hilft nicht ſelbſt vor Gericht der
Ruf bey den Leuten eben ſo oft als die veruͤbten
Thaten, und bisweilen wohl gar Trotz aller veruͤbten
Thaten, losſprechen oder verdammen? ‒ ‒ Den-
noch habe ich meinen Ruf ſo wenig geachtet! O wie
ſehr habe ich meine Regeln der Klugheit verſaͤumet,
und wie ſehr verſaͤume ich ſie noch itzo! ‒ ‒ Nun-
mehr iſt es ſchon nicht zu erſetzen: ich zweifle ſehr
daran ‒ ‒ Aber wir wollen die Sittenlehre ruhen
laſſen.

Du weißt beynahe alle meine Unternehmungen,
Bruder, die denkwuͤrdig ſind. Sollte die beſondere
Geſchichte, worauf dieß Maͤgdchen zielet, wohl die
Begebenheit mit Lucia Villars ſeyn koͤnnen? ‒ ‒
Oder ſollte ſie wohl von meinen Streichen mit der
artigen Gypſey, die ich zu Norwood antraf, gehoͤret
haben, und von der Falle, worinn ich ihren grauſa-
men Mann, einen eben ſo finſtern und tyranniſchen
Kerl, als der alte Harlowe iſt, damals fing, als er
ein Weib verfolgte, daß ſich nicht uͤbel um ihn
wuͤrde verdient gemacht haben, wenn er ſich wohl
um ſie verdient gemacht haͤtte? ‒ ‒ Allein er kam
nicht um den Hals. Der Kerl lebt noch dieſen Tag:
und Fraͤulein Howe gedenket der Hiſtorie, als einer
ſehr anſtoͤßigen Sache Außerdem ſind dieſe beyden Be-
gebenheiten ſchon zwoͤlf Monathe alt oder noch aͤlter.

Aber boͤſe Geruͤchte und aͤrgerliche Thaten ſind
allemal neu. Wenn die beleidigende Perſon eine
ſchaͤndliche That ſchon vergeſſen hat: ſo wird ſie oft
einem oder dem andern erzaͤhlet, der ſie noch nicht
gehoͤret hat, und als etwas neues allenthalben bey
andern auspoſaunet. Gar wohl ſagte der ehrliche
Richter zu Madrid: des Guten, was jemand thut,
erinnert man ſich nur auf einen Tag; aber des

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[530/0536] Laß nur einen Mann oder eine Weibsperſon ſich erſt bey der Welt in eine gute Meynung ſetzen: ſo wird alles, was der eine oder die andere thut, hei- lig heißen. Ja hilft nicht ſelbſt vor Gericht der Ruf bey den Leuten eben ſo oft als die veruͤbten Thaten, und bisweilen wohl gar Trotz aller veruͤbten Thaten, losſprechen oder verdammen? ‒ ‒ Den- noch habe ich meinen Ruf ſo wenig geachtet! O wie ſehr habe ich meine Regeln der Klugheit verſaͤumet, und wie ſehr verſaͤume ich ſie noch itzo! ‒ ‒ Nun- mehr iſt es ſchon nicht zu erſetzen: ich zweifle ſehr daran ‒ ‒ Aber wir wollen die Sittenlehre ruhen laſſen. Du weißt beynahe alle meine Unternehmungen, Bruder, die denkwuͤrdig ſind. Sollte die beſondere Geſchichte, worauf dieß Maͤgdchen zielet, wohl die Begebenheit mit Lucia Villars ſeyn koͤnnen? ‒ ‒ Oder ſollte ſie wohl von meinen Streichen mit der artigen Gypſey, die ich zu Norwood antraf, gehoͤret haben, und von der Falle, worinn ich ihren grauſa- men Mann, einen eben ſo finſtern und tyranniſchen Kerl, als der alte Harlowe iſt, damals fing, als er ein Weib verfolgte, daß ſich nicht uͤbel um ihn wuͤrde verdient gemacht haben, wenn er ſich wohl um ſie verdient gemacht haͤtte? ‒ ‒ Allein er kam nicht um den Hals. Der Kerl lebt noch dieſen Tag: und Fraͤulein Howe gedenket der Hiſtorie, als einer ſehr anſtoͤßigen Sache Außerdem ſind dieſe beyden Be- gebenheiten ſchon zwoͤlf Monathe alt oder noch aͤlter. Aber boͤſe Geruͤchte und aͤrgerliche Thaten ſind allemal neu. Wenn die beleidigende Perſon eine ſchaͤndliche That ſchon vergeſſen hat: ſo wird ſie oft einem oder dem andern erzaͤhlet, der ſie noch nicht gehoͤret hat, und als etwas neues allenthalben bey andern auspoſaunet. Gar wohl ſagte der ehrliche Richter zu Madrid: des Guten, was jemand thut, erinnert man ſich nur auf einen Tag; aber des Boͤſen

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/536>, abgerufen am 22.11.2024.