Sie nahm den Brief mit großer Hitze, öff- nete ihn eilfertig; das war mir lieb, ob ich gleich vermuthe, daß alles recht gewesen ist; in Gegenwart der Fr. Moore und Fr. Bevis; Jungfer Rawlins war zu Hause gegangen; und sagte: sie wollte um aller Welt willen nicht, daß ich den Brief bekommen hätte; sie wollte es ihrer werthesten Freundinn wegen nicht, von de- ren Händen er wäre, und die desfalls mit vieler Sorge an sie geschrieben. Jhre wertheste Freundinn! sagte Fr. Bevis noch einmal, da sie mir dieß erzählte. - - Dergleichen Unglücks- stister heißen allemal wertheste Freunde, bis sie sich verrathen haben.
Die Witwe spricht, ich sey der feinste und ar- tigste Herr, den sie jemals gesehen habe.
Jch habe befunden, daß sie einen feurigen Kuß, den ich ihr ein und das andre mal gegeben, sehr freundlich angenommen hat.
Jch würde ein recht böser Bube seyn, Bru- der: wenn ich alles Uebel, was in meiner Ge- walt stehet, thun wollte. Allein ich werde von Zeit zu Zeit mehr geneigt, einen allzu leichten Raub den kriechendliederlichen Brüdern zu überlassen. Was anders, als die Schwierigkeit, macht mich hier so beständig? ob gleich meine Fräulein ein Engel ist. Es heißt hier nunmehr: Siege oder stirb.
Jch komme eben itzo aus der Gesellschaft die- ser ehrlichen Witwe. Sie besuchte mich in mei-
ner
Z 2
Sie nahm den Brief mit großer Hitze, oͤff- nete ihn eilfertig; das war mir lieb, ob ich gleich vermuthe, daß alles recht geweſen iſt; in Gegenwart der Fr. Moore und Fr. Bevis; Jungfer Rawlins war zu Hauſe gegangen; und ſagte: ſie wollte um aller Welt willen nicht, daß ich den Brief bekommen haͤtte; ſie wollte es ihrer wertheſten Freundinn wegen nicht, von de- ren Haͤnden er waͤre, und die desfalls mit vieler Sorge an ſie geſchrieben. Jhre wertheſte Freundinn! ſagte Fr. Bevis noch einmal, da ſie mir dieß erzaͤhlte. ‒ ‒ Dergleichen Ungluͤcks- ſtiſter heißen allemal wertheſte Freunde, bis ſie ſich verrathen haben.
Die Witwe ſpricht, ich ſey der feinſte und ar- tigſte Herr, den ſie jemals geſehen habe.
Jch habe befunden, daß ſie einen feurigen Kuß, den ich ihr ein und das andre mal gegeben, ſehr freundlich angenommen hat.
Jch wuͤrde ein recht boͤſer Bube ſeyn, Bru- der: wenn ich alles Uebel, was in meiner Ge- walt ſtehet, thun wollte. Allein ich werde von Zeit zu Zeit mehr geneigt, einen allzu leichten Raub den kriechendliederlichen Bruͤdern zu uͤberlaſſen. Was anders, als die Schwierigkeit, macht mich hier ſo beſtaͤndig? ob gleich meine Fraͤulein ein Engel iſt. Es heißt hier nunmehr: Siege oder ſtirb.
Jch komme eben itzo aus der Geſellſchaft die- ſer ehrlichen Witwe. Sie beſuchte mich in mei-
ner
Z 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0361"n="355"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Sie nahm den Brief mit großer Hitze, oͤff-<lb/>
nete ihn eilfertig; <hirendition="#fr">das war mir lieb, ob ich<lb/>
gleich vermuthe, daß alles recht geweſen iſt;</hi><lb/>
in Gegenwart der Fr. Moore und Fr. Bevis;<lb/><hirendition="#fr">Jungfer Rawlins war zu Hauſe gegangen;</hi><lb/>
und ſagte: ſie wollte um aller Welt willen nicht,<lb/>
daß ich den Brief bekommen haͤtte; ſie wollte es<lb/>
ihrer wertheſten Freundinn wegen nicht, von de-<lb/>
ren Haͤnden er waͤre, und die desfalls mit vieler<lb/>
Sorge an ſie geſchrieben. Jhre <hirendition="#fr">wertheſte<lb/>
Freundinn!</hi>ſagte Fr. Bevis noch einmal, da<lb/>ſie mir dieß erzaͤhlte. ‒‒ Dergleichen Ungluͤcks-<lb/>ſtiſter heißen allemal wertheſte Freunde, bis ſie<lb/>ſich verrathen haben.</p><lb/><p>Die Witwe ſpricht, ich ſey der feinſte und ar-<lb/>
tigſte Herr, den ſie jemals geſehen habe.</p><lb/><p>Jch habe befunden, daß ſie einen feurigen<lb/>
Kuß, den ich ihr ein und das andre mal gegeben,<lb/>ſehr freundlich angenommen hat.</p><lb/><p>Jch wuͤrde ein recht boͤſer Bube ſeyn, Bru-<lb/>
der: wenn ich alles Uebel, was in meiner Ge-<lb/>
walt ſtehet, thun wollte. Allein ich werde von<lb/>
Zeit zu Zeit mehr geneigt, einen allzu leichten<lb/>
Raub den <hirendition="#fr">kriechendliederlichen Bruͤdern</hi> zu<lb/>
uͤberlaſſen. Was anders, als die Schwierigkeit,<lb/>
macht mich hier ſo beſtaͤndig? ob gleich meine<lb/>
Fraͤulein ein Engel iſt. Es heißt hier nunmehr:<lb/><hirendition="#fr">Siege oder ſtirb.</hi></p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Jch komme eben itzo aus der Geſellſchaft die-<lb/>ſer ehrlichen Witwe. Sie beſuchte mich in mei-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Z 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ner</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[355/0361]
Sie nahm den Brief mit großer Hitze, oͤff-
nete ihn eilfertig; das war mir lieb, ob ich
gleich vermuthe, daß alles recht geweſen iſt;
in Gegenwart der Fr. Moore und Fr. Bevis;
Jungfer Rawlins war zu Hauſe gegangen;
und ſagte: ſie wollte um aller Welt willen nicht,
daß ich den Brief bekommen haͤtte; ſie wollte es
ihrer wertheſten Freundinn wegen nicht, von de-
ren Haͤnden er waͤre, und die desfalls mit vieler
Sorge an ſie geſchrieben. Jhre wertheſte
Freundinn! ſagte Fr. Bevis noch einmal, da
ſie mir dieß erzaͤhlte. ‒ ‒ Dergleichen Ungluͤcks-
ſtiſter heißen allemal wertheſte Freunde, bis ſie
ſich verrathen haben.
Die Witwe ſpricht, ich ſey der feinſte und ar-
tigſte Herr, den ſie jemals geſehen habe.
Jch habe befunden, daß ſie einen feurigen
Kuß, den ich ihr ein und das andre mal gegeben,
ſehr freundlich angenommen hat.
Jch wuͤrde ein recht boͤſer Bube ſeyn, Bru-
der: wenn ich alles Uebel, was in meiner Ge-
walt ſtehet, thun wollte. Allein ich werde von
Zeit zu Zeit mehr geneigt, einen allzu leichten
Raub den kriechendliederlichen Bruͤdern zu
uͤberlaſſen. Was anders, als die Schwierigkeit,
macht mich hier ſo beſtaͤndig? ob gleich meine
Fraͤulein ein Engel iſt. Es heißt hier nunmehr:
Siege oder ſtirb.
Jch komme eben itzo aus der Geſellſchaft die-
ſer ehrlichen Witwe. Sie beſuchte mich in mei-
ner
Z 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/361>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.