Es ist mir lieb, daß sie so viel geweinet hat. Denn kein Herz berstet, das diese angenehme Er- leichterung haben kann: die Gelegenheit zu dem Kummer mag seyn, was es will. Daher hält es bey mir allezeit schwer, durch den Anblick die- ser durchsichtigen Flüchtlinge an einem schönen Frauenzimmer gerührt zu werden. Wie oft ha- be ich in den verwichnen zwölf Stunden gewünscht, daß ich auf das erschrecklichste heulen und weinen könnte!
"Darauf sahe sie eine ledige Kutsche, mit "vier Pferden, die auf sie zu kam. Sie ging da- "her queer über den Fußsteig, auf welchem sie "war, als wenn sie derselben entgegen kommen "wollte; und schien gesonnen mit dem Kutscher "zu reden, wenn er stille gehalten oder zuerst ge- "redet hätte. Dieser sahe sie eben so begierig "an, als sie ihn. Das that ein jeder, der vor- "beyging. Und so konnte sie desto weniger auf "den Kerl, der sie belaurete, einen Verdacht wer- "fen" - Was für ein glücklicher Schelm wärest du, Kutscher, gewesen, wenn du gewußt hättest, mit wem du dich in eine Bekanntschaft eingelassen, und wen du durch eine Gefälligkeit verpflichtet haben würdest! - - Es war die göttliche Cla- rissa Harlowe, die du angaffetest! - Meine ei- gene Clarissa Harlowe! - Allein es war gut für mich, daß du nicht klüger warest, als deine Pfer- de. Wie würde ich sonst in die Jrre herumge- führet seyn!
"Kurz,
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Es iſt mir lieb, daß ſie ſo viel geweinet hat. Denn kein Herz berſtet, das dieſe angenehme Er- leichterung haben kann: die Gelegenheit zu dem Kummer mag ſeyn, was es will. Daher haͤlt es bey mir allezeit ſchwer, durch den Anblick die- ſer durchſichtigen Fluͤchtlinge an einem ſchoͤnen Frauenzimmer geruͤhrt zu werden. Wie oft ha- be ich in den verwichnen zwoͤlf Stunden gewuͤnſcht, daß ich auf das erſchrecklichſte heulen und weinen koͤnnte!
„Darauf ſahe ſie eine ledige Kutſche, mit „vier Pferden, die auf ſie zu kam. Sie ging da- „her queer uͤber den Fußſteig, auf welchem ſie „war, als wenn ſie derſelben entgegen kommen „wollte; und ſchien geſonnen mit dem Kutſcher „zu reden, wenn er ſtille gehalten oder zuerſt ge- „redet haͤtte. Dieſer ſahe ſie eben ſo begierig „an, als ſie ihn. Das that ein jeder, der vor- „beyging. Und ſo konnte ſie deſto weniger auf „den Kerl, der ſie belaurete, einen Verdacht wer- „fen„ ‒ Was fuͤr ein gluͤcklicher Schelm waͤreſt du, Kutſcher, geweſen, wenn du gewußt haͤtteſt, mit wem du dich in eine Bekanntſchaft eingelaſſen, und wen du durch eine Gefaͤlligkeit verpflichtet haben wuͤrdeſt! ‒ ‒ Es war die goͤttliche Cla- riſſa Harlowe, die du angaffeteſt! ‒ Meine ei- gene Clariſſa Harlowe! ‒ Allein es war gut fuͤr mich, daß du nicht kluͤger wareſt, als deine Pfer- de. Wie wuͤrde ich ſonſt in die Jrre herumge- fuͤhret ſeyn!
„Kurz,
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Es iſt mir lieb, daß ſie ſo viel geweinet hat.
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Kummer mag ſeyn, was es will. Daher haͤlt
es bey mir allezeit ſchwer, durch den Anblick die-
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Frauenzimmer geruͤhrt zu werden. Wie oft ha-
be ich in den verwichnen zwoͤlf Stunden gewuͤnſcht,
daß ich auf das erſchrecklichſte heulen und weinen
koͤnnte!
„Darauf ſahe ſie eine ledige Kutſche, mit
„vier Pferden, die auf ſie zu kam. Sie ging da-
„her queer uͤber den Fußſteig, auf welchem ſie
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„wollte; und ſchien geſonnen mit dem Kutſcher
„zu reden, wenn er ſtille gehalten oder zuerſt ge-
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„an, als ſie ihn. Das that ein jeder, der vor-
„beyging. Und ſo konnte ſie deſto weniger auf
„den Kerl, der ſie belaurete, einen Verdacht wer-
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du, Kutſcher, geweſen, wenn du gewußt haͤtteſt,
mit wem du dich in eine Bekanntſchaft eingelaſſen,
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haben wuͤrdeſt! ‒ ‒ Es war die goͤttliche Cla-
riſſa Harlowe, die du angaffeteſt! ‒ Meine ei-
gene Clariſſa Harlowe! ‒ Allein es war gut fuͤr
mich, daß du nicht kluͤger wareſt, als deine Pfer-
de. Wie wuͤrde ich ſonſt in die Jrre herumge-
fuͤhret ſeyn!
„Kurz,
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/207>, abgerufen am 04.12.2024.
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