Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



oft wieder in den Sinn kommt, soll so weit über
mich erhaben seyn! Jch selbst soll in meiner ei-
genen Familie, nur als die zweyte und geringere
Person angesehen werden! Kannst du mich eine
solche Vorstellung, als diese ist, vertragen lehren!
- - Wollte man mir sagen, wie viel ich mit ihr
gewinne, und daß sie mit allen ihren ausnehmen-
den Vorzügen mein völliges Eigenthum seyn
werde: so ist das ein Jrrthum. Es kann nicht
so seyn. Denn werde ich nicht ihr, und nicht
mir selbst zugehören? - Wird nicht eine jede
Ausübung ihrer Pflicht, da ich sie nicht verdie-
nen kann, eine Herablassung und ein Sieg über
mich seyn? - Und muß ich es bloß ihrer Güte zu
danken haben, daß sie mich nicht verachtet? -
Soll ich ertragen, daß sie sich herablassen muß,
mit meinen Schwachheiten Geduld zu haben!
- - Daß sie mich mit einem mitleidigen Auge
verwundet! Soll eine Tochter der Harlowe den
letzten, und wie ich vorher schon gesagt habe,
nicht den geringsten von den Lovelacen so weit
übertreffen! - Das sey ferne!

Doch es sey nicht ferne - Denn sehe ich sie
nicht itzo, sehe ich sie nicht alle Augenblicke vor
mir, als lauter Reiz, und Wohlstand und Rei-
nigkeit, so wie verwichene Nacht in ihrem rin-
genden Widerstreben? Und in diesem Widerstre-
ben Herz, Stimme, Augen, Hände und alle Ge-
sinnungen, so vollkommen, so ruhmwürdig dem-
jenigen Character gemäß, den sie von ihrer Wie-
gen an bis auf diese Stunde behalten hat?

Aber



oft wieder in den Sinn kommt, ſoll ſo weit uͤber
mich erhaben ſeyn! Jch ſelbſt ſoll in meiner ei-
genen Familie, nur als die zweyte und geringere
Perſon angeſehen werden! Kannſt du mich eine
ſolche Vorſtellung, als dieſe iſt, vertragen lehren!
‒ ‒ Wollte man mir ſagen, wie viel ich mit ihr
gewinne, und daß ſie mit allen ihren ausnehmen-
den Vorzuͤgen mein voͤlliges Eigenthum ſeyn
werde: ſo iſt das ein Jrrthum. Es kann nicht
ſo ſeyn. Denn werde ich nicht ihr, und nicht
mir ſelbſt zugehoͤren? ‒ Wird nicht eine jede
Ausuͤbung ihrer Pflicht, da ich ſie nicht verdie-
nen kann, eine Herablaſſung und ein Sieg uͤber
mich ſeyn? ‒ Und muß ich es bloß ihrer Guͤte zu
danken haben, daß ſie mich nicht verachtet? ‒
Soll ich ertragen, daß ſie ſich herablaſſen muß,
mit meinen Schwachheiten Geduld zu haben!
‒ ‒ Daß ſie mich mit einem mitleidigen Auge
verwundet! Soll eine Tochter der Harlowe den
letzten, und wie ich vorher ſchon geſagt habe,
nicht den geringſten von den Lovelacen ſo weit
uͤbertreffen! ‒ Das ſey ferne!

Doch es ſey nicht ferne ‒ Denn ſehe ich ſie
nicht itzo, ſehe ich ſie nicht alle Augenblicke vor
mir, als lauter Reiz, und Wohlſtand und Rei-
nigkeit, ſo wie verwichene Nacht in ihrem rin-
genden Widerſtreben? Und in dieſem Widerſtre-
ben Herz, Stimme, Augen, Haͤnde und alle Ge-
ſinnungen, ſo vollkommen, ſo ruhmwuͤrdig dem-
jenigen Character gemaͤß, den ſie von ihrer Wie-
gen an bis auf dieſe Stunde behalten hat?

Aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0113" n="107"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
oft wieder in den Sinn kommt, &#x017F;oll &#x017F;o weit u&#x0364;ber<lb/>
mich erhaben &#x017F;eyn! Jch &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;oll in meiner ei-<lb/>
genen Familie, nur als die zweyte und geringere<lb/>
Per&#x017F;on ange&#x017F;ehen werden! Kann&#x017F;t du mich eine<lb/>
&#x017F;olche Vor&#x017F;tellung, als die&#x017F;e i&#x017F;t, vertragen lehren!<lb/>
&#x2012; &#x2012; Wollte man mir &#x017F;agen, wie viel ich mit ihr<lb/>
gewinne, und daß &#x017F;ie mit allen ihren ausnehmen-<lb/>
den Vorzu&#x0364;gen mein vo&#x0364;lliges Eigenthum &#x017F;eyn<lb/>
werde: &#x017F;o i&#x017F;t das ein Jrrthum. Es kann nicht<lb/>
&#x017F;o &#x017F;eyn. Denn werde ich nicht ihr, und nicht<lb/><hi rendition="#fr">mir &#x017F;elb&#x017F;t</hi> zugeho&#x0364;ren? &#x2012; Wird nicht eine jede<lb/>
Ausu&#x0364;bung ihrer Pflicht, da ich &#x017F;ie nicht verdie-<lb/>
nen kann, eine Herabla&#x017F;&#x017F;ung und ein Sieg u&#x0364;ber<lb/>
mich &#x017F;eyn? &#x2012; Und muß ich es bloß ihrer Gu&#x0364;te zu<lb/>
danken haben, daß &#x017F;ie mich nicht verachtet? &#x2012;<lb/>
Soll ich ertragen, daß &#x017F;ie &#x017F;ich herabla&#x017F;&#x017F;en muß,<lb/>
mit meinen Schwachheiten Geduld zu haben!<lb/>
&#x2012; &#x2012; Daß &#x017F;ie mich mit einem mitleidigen Auge<lb/>
verwundet! Soll eine Tochter der Harlowe den<lb/>
letzten, und wie ich vorher &#x017F;chon ge&#x017F;agt habe,<lb/>
nicht den gering&#x017F;ten von den <hi rendition="#fr">Lovelacen</hi> &#x017F;o weit<lb/>
u&#x0364;bertreffen! &#x2012; Das &#x017F;ey ferne!</p><lb/>
          <p>Doch es &#x017F;ey nicht ferne &#x2012; Denn &#x017F;ehe ich &#x017F;ie<lb/>
nicht itzo, &#x017F;ehe ich &#x017F;ie nicht alle Augenblicke vor<lb/>
mir, als lauter Reiz, und Wohl&#x017F;tand und Rei-<lb/>
nigkeit, &#x017F;o wie verwichene Nacht in ihrem rin-<lb/>
genden Wider&#x017F;treben? Und in die&#x017F;em Wider&#x017F;tre-<lb/>
ben Herz, Stimme, Augen, Ha&#x0364;nde und alle Ge-<lb/>
&#x017F;innungen, &#x017F;o vollkommen, &#x017F;o ruhmwu&#x0364;rdig dem-<lb/>
jenigen Character gema&#x0364;ß, den &#x017F;ie von ihrer Wie-<lb/>
gen an bis auf die&#x017F;e Stunde behalten hat?</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Aber</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0113] oft wieder in den Sinn kommt, ſoll ſo weit uͤber mich erhaben ſeyn! Jch ſelbſt ſoll in meiner ei- genen Familie, nur als die zweyte und geringere Perſon angeſehen werden! Kannſt du mich eine ſolche Vorſtellung, als dieſe iſt, vertragen lehren! ‒ ‒ Wollte man mir ſagen, wie viel ich mit ihr gewinne, und daß ſie mit allen ihren ausnehmen- den Vorzuͤgen mein voͤlliges Eigenthum ſeyn werde: ſo iſt das ein Jrrthum. Es kann nicht ſo ſeyn. Denn werde ich nicht ihr, und nicht mir ſelbſt zugehoͤren? ‒ Wird nicht eine jede Ausuͤbung ihrer Pflicht, da ich ſie nicht verdie- nen kann, eine Herablaſſung und ein Sieg uͤber mich ſeyn? ‒ Und muß ich es bloß ihrer Guͤte zu danken haben, daß ſie mich nicht verachtet? ‒ Soll ich ertragen, daß ſie ſich herablaſſen muß, mit meinen Schwachheiten Geduld zu haben! ‒ ‒ Daß ſie mich mit einem mitleidigen Auge verwundet! Soll eine Tochter der Harlowe den letzten, und wie ich vorher ſchon geſagt habe, nicht den geringſten von den Lovelacen ſo weit uͤbertreffen! ‒ Das ſey ferne! Doch es ſey nicht ferne ‒ Denn ſehe ich ſie nicht itzo, ſehe ich ſie nicht alle Augenblicke vor mir, als lauter Reiz, und Wohlſtand und Rei- nigkeit, ſo wie verwichene Nacht in ihrem rin- genden Widerſtreben? Und in dieſem Widerſtre- ben Herz, Stimme, Augen, Haͤnde und alle Ge- ſinnungen, ſo vollkommen, ſo ruhmwuͤrdig dem- jenigen Character gemaͤß, den ſie von ihrer Wie- gen an bis auf dieſe Stunde behalten hat? Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/113
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/113>, abgerufen am 22.11.2024.