Sie weiß, daß ich nicht mehr als die Wahrheit schreibe. Vieles gute hatte sie Jhr allein zu dan- cken, und Sie flößte ihr das mit der Milch ein, was ihr keine andere hätte einflössen können.
Kann Sie glauben, daß die muthwillige Ver- gehung eines solchen Kindes Vergebung verdienet? Kann Clärchen selbst leugnen, daß sie die härteste Strafe verdienet, nachdem sie so ausserordentliche Gaben so schlecht gebraucht hat?
Jhre Sünde ist recht mit Vorbedacht und mit List von ihr begangen worden. Sie hat jedermann in seiner Erwartung betrogen. Sie hat ihr gan- tzes Geschlecht so wohl, als ihre Familie beschim- pfet.
Wer hätte glauben sollen, daß ein Kind, wel- ches durch seinen Rath eine allzu muntere Freundin abgehalten hatte einen närrischen und liederlichen Kerl zu heyrathen, daß, sage ich, eben dieses Kind mit dem allerliederlichsten Kerl und berüchtigsten Bösewicht davon gehen würde? mit einem Men- schen, den es kannte, und wußte daß er ärger war als jener, vor dessen Lastern es seine Freundin warne- te? mit einem Schläger, der das Leben seines Bru- ders einmahl in seiner Gewalt gehabt hatte, und der unserer gantzen Familie trotzete?
Setze Sie sich an meine Stelle, und überdencke Sie, wie groß mein Kummer seyn muß, den ich als Mutter empfinde, und wie vielen Verdruß ich von meinem Manne auszustehen habe. Stelle Sie sich meine unruhigen Tage und schlaflosen Nächte vor; und dennoch muß ich oft meine quälende Unruhe
ver-
Sie weiß, daß ich nicht mehr alſ die Wahrheit ſchreibe. Vieles gute hatte ſie Jhr allein zu dan- cken, und Sie floͤßte ihr das mit der Milch ein, was ihr keine andere haͤtte einfloͤſſen koͤnnen.
Kann Sie glauben, daß die muthwillige Ver- gehung eines ſolchen Kindes Vergebung verdienet? Kann Claͤrchen ſelbſt leugnen, daß ſie die haͤrteſte Strafe verdienet, nachdem ſie ſo auſſerordentliche Gaben ſo ſchlecht gebraucht hat?
Jhre Suͤnde iſt recht mit Vorbedacht und mit Liſt von ihr begangen worden. Sie hat jedermann in ſeiner Erwartung betrogen. Sie hat ihr gan- tzes Geſchlecht ſo wohl, als ihre Familie beſchim- pfet.
Wer haͤtte glauben ſollen, daß ein Kind, wel- ches durch ſeinen Rath eine allzu muntere Freundin abgehalten hatte einen naͤrriſchen und liederlichen Kerl zu heyrathen, daß, ſage ich, eben dieſes Kind mit dem allerliederlichſten Kerl und beruͤchtigſten Boͤſewicht davon gehen wuͤrde? mit einem Men- ſchen, den es kannte, und wußte daß er aͤrger war als jener, vor deſſen Laſtern es ſeine Freundin warne- te? mit einem Schlaͤger, der das Leben ſeines Bru- ders einmahl in ſeiner Gewalt gehabt hatte, und der unſerer gantzen Familie trotzete?
Setze Sie ſich an meine Stelle, und uͤberdencke Sie, wie groß mein Kummer ſeyn muß, den ich als Mutter empfinde, und wie vielen Verdruß ich von meinem Manne auszuſtehen habe. Stelle Sie ſich meine unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte vor; und dennoch muß ich oft meine quaͤlende Unruhe
ver-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0058"n="52"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Sie weiß, daß ich nicht mehr alſ die Wahrheit<lb/>ſchreibe. Vieles gute hatte ſie Jhr allein zu dan-<lb/>
cken, und Sie floͤßte ihr das mit der Milch ein, was<lb/>
ihr keine andere haͤtte einfloͤſſen koͤnnen.</p><lb/><p>Kann Sie glauben, daß die muthwillige Ver-<lb/>
gehung eines ſolchen Kindes Vergebung verdienet?<lb/>
Kann <hirendition="#fr">Claͤrchen</hi>ſelbſt leugnen, daß ſie die haͤrteſte<lb/>
Strafe verdienet, nachdem ſie ſo auſſerordentliche<lb/>
Gaben ſo ſchlecht gebraucht hat?</p><lb/><p>Jhre Suͤnde iſt recht mit Vorbedacht und mit<lb/>
Liſt von ihr begangen worden. Sie hat jedermann<lb/>
in ſeiner Erwartung betrogen. Sie hat ihr gan-<lb/>
tzes Geſchlecht ſo wohl, als ihre Familie beſchim-<lb/>
pfet.</p><lb/><p>Wer haͤtte glauben ſollen, daß ein Kind, wel-<lb/>
ches durch ſeinen Rath eine allzu muntere Freundin<lb/>
abgehalten hatte einen naͤrriſchen und liederlichen<lb/>
Kerl zu heyrathen, daß, ſage ich, eben dieſes Kind<lb/>
mit dem allerliederlichſten Kerl und beruͤchtigſten<lb/>
Boͤſewicht davon gehen wuͤrde? mit einem Men-<lb/>ſchen, den es kannte, und wußte daß er aͤrger war<lb/>
als jener, vor deſſen Laſtern es ſeine Freundin warne-<lb/>
te? mit einem Schlaͤger, der das Leben ſeines Bru-<lb/>
ders einmahl in ſeiner Gewalt gehabt hatte, und der<lb/>
unſerer gantzen Familie trotzete?</p><lb/><p>Setze Sie ſich an meine Stelle, und uͤberdencke<lb/>
Sie, wie groß mein Kummer ſeyn muß, den ich als<lb/>
Mutter empfinde, und wie vielen Verdruß ich von<lb/>
meinem Manne auszuſtehen habe. Stelle Sie<lb/>ſich meine unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte<lb/>
vor; und dennoch muß ich oft meine quaͤlende Unruhe<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ver-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[52/0058]
Sie weiß, daß ich nicht mehr alſ die Wahrheit
ſchreibe. Vieles gute hatte ſie Jhr allein zu dan-
cken, und Sie floͤßte ihr das mit der Milch ein, was
ihr keine andere haͤtte einfloͤſſen koͤnnen.
Kann Sie glauben, daß die muthwillige Ver-
gehung eines ſolchen Kindes Vergebung verdienet?
Kann Claͤrchen ſelbſt leugnen, daß ſie die haͤrteſte
Strafe verdienet, nachdem ſie ſo auſſerordentliche
Gaben ſo ſchlecht gebraucht hat?
Jhre Suͤnde iſt recht mit Vorbedacht und mit
Liſt von ihr begangen worden. Sie hat jedermann
in ſeiner Erwartung betrogen. Sie hat ihr gan-
tzes Geſchlecht ſo wohl, als ihre Familie beſchim-
pfet.
Wer haͤtte glauben ſollen, daß ein Kind, wel-
ches durch ſeinen Rath eine allzu muntere Freundin
abgehalten hatte einen naͤrriſchen und liederlichen
Kerl zu heyrathen, daß, ſage ich, eben dieſes Kind
mit dem allerliederlichſten Kerl und beruͤchtigſten
Boͤſewicht davon gehen wuͤrde? mit einem Men-
ſchen, den es kannte, und wußte daß er aͤrger war
als jener, vor deſſen Laſtern es ſeine Freundin warne-
te? mit einem Schlaͤger, der das Leben ſeines Bru-
ders einmahl in ſeiner Gewalt gehabt hatte, und der
unſerer gantzen Familie trotzete?
Setze Sie ſich an meine Stelle, und uͤberdencke
Sie, wie groß mein Kummer ſeyn muß, den ich als
Mutter empfinde, und wie vielen Verdruß ich von
meinem Manne auszuſtehen habe. Stelle Sie
ſich meine unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte
vor; und dennoch muß ich oft meine quaͤlende Unruhe
ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/58>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.