Wenn uns jemand wegen unserer Tochter glück- dich prieß, so nahmen wir es an, und gestunden, laß keine Eltern durch ihre Kinder glücklicher werden könnten als wir. Wenn insonderheit ihr Gehorsam gerühmet ward, so sagten wir, sie wüßte gar nicht, wie sie uns beleydigen sollte. Wenn andere rühmten, die Fräulein Clarissa Harlowe hätte mehr Witz und Scharfsinnigkeit, als man von ihren Jahren erwarten könnte, so leugneten wir es nicht allein nicht, sondern wir setzten noch wohl gar dazu: ih- re Beurtheilungs-Kraft sey eben so groß als ihr Witz. Wenn ihre Klugheit und Vorsichtigkeit ge- rühmet ward, dadurch sie nach jedermanns Urtheil den Mangel der Erfahrung und der Jahre reichlich ersetzte, so waren wir wol so hochmüthig, daß wir antworteten: niemand dürfte sich schämen von un- serer Tochter zu lernen.
Vergebe Sie mir mein Geschwätz, meine liebe Frau Norton. Doch ich weiß, Sie wird es thun: denn so lange meine Clarissa ein gutes Kind gewesen ist, war sie Jhr Kind, und sie gereichte Jhr so wohl als mir zur Ehre.
Hat Sie nicht bisweilen gehört, daß Fremde stille stunden, und diesen Engel (wie sie meine Clarissa nannten) bewunderten, wenn sie nach der Kirche ging? und daß die, die sie kannten, weiter nichts sagten, als: es ist ja die Fräulein Clarissa Harlo- we! nicht anders, als wenn die Fräulein Clarissa Harlowe einem jeden bekannt seyn müßte. Sie war des Lobes schon so gewohnt, und es war mit ihr so bekannt geworden, daß weder in ihrem Gesicht
noch
Vierter Theil. D
Wenn uns jemand wegen unſerer Tochter gluͤck- dich prieß, ſo nahmen wir es an, und geſtunden, laß keine Eltern durch ihre Kinder gluͤcklicher werden koͤnnten als wir. Wenn inſonderheit ihr Gehorſam geruͤhmet ward, ſo ſagten wir, ſie wuͤßte gar nicht, wie ſie uns beleydigen ſollte. Wenn andere ruͤhmten, die Fraͤulein Clariſſa Harlowe haͤtte mehr Witz und Scharfſinnigkeit, als man von ihren Jahren erwarten koͤnnte, ſo leugneten wir es nicht allein nicht, ſondern wir ſetzten noch wohl gar dazu: ih- re Beurtheilungs-Kraft ſey eben ſo groß als ihr Witz. Wenn ihre Klugheit und Vorſichtigkeit ge- ruͤhmet ward, dadurch ſie nach jedermanns Urtheil den Mangel der Erfahrung und der Jahre reichlich erſetzte, ſo waren wir wol ſo hochmuͤthig, daß wir antworteten: niemand duͤrfte ſich ſchaͤmen von un- ſerer Tochter zu lernen.
Vergebe Sie mir mein Geſchwaͤtz, meine liebe Frau Norton. Doch ich weiß, Sie wird es thun: denn ſo lange meine Clariſſa ein gutes Kind geweſen iſt, war ſie Jhr Kind, und ſie gereichte Jhr ſo wohl als mir zur Ehre.
Hat Sie nicht bisweilen gehoͤrt, daß Fremde ſtille ſtunden, und dieſen Engel (wie ſie meine Clariſſa nannten) bewunderten, wenn ſie nach der Kirche ging? und daß die, die ſie kannten, weiter nichts ſagten, als: es iſt ja die Fraͤulein Clariſſa Harlo- we! nicht anders, als wenn die Fraͤulein Clariſſa Harlowe einem jeden bekannt ſeyn muͤßte. Sie war des Lobes ſchon ſo gewohnt, und es war mit ihr ſo bekannt geworden, daß weder in ihrem Geſicht
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Vierter Theil. D
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Wenn uns jemand wegen unſerer Tochter gluͤck-
dich prieß, ſo nahmen wir es an, und geſtunden,
laß keine Eltern durch ihre Kinder gluͤcklicher werden
koͤnnten als wir. Wenn inſonderheit ihr Gehorſam
geruͤhmet ward, ſo ſagten wir, ſie wuͤßte gar nicht,
wie ſie uns beleydigen ſollte. Wenn andere ruͤhmten,
die Fraͤulein Clariſſa Harlowe haͤtte mehr Witz
und Scharfſinnigkeit, als man von ihren Jahren
erwarten koͤnnte, ſo leugneten wir es nicht allein
nicht, ſondern wir ſetzten noch wohl gar dazu: ih-
re Beurtheilungs-Kraft ſey eben ſo groß als ihr
Witz. Wenn ihre Klugheit und Vorſichtigkeit ge-
ruͤhmet ward, dadurch ſie nach jedermanns Urtheil
den Mangel der Erfahrung und der Jahre reichlich
erſetzte, ſo waren wir wol ſo hochmuͤthig, daß wir
antworteten: niemand duͤrfte ſich ſchaͤmen von un-
ſerer Tochter zu lernen.
Vergebe Sie mir mein Geſchwaͤtz, meine liebe
Frau Norton. Doch ich weiß, Sie wird es thun:
denn ſo lange meine Clariſſa ein gutes Kind
geweſen iſt, war ſie Jhr Kind, und ſie gereichte Jhr
ſo wohl als mir zur Ehre.
Hat Sie nicht bisweilen gehoͤrt, daß Fremde ſtille
ſtunden, und dieſen Engel (wie ſie meine Clariſſa
nannten) bewunderten, wenn ſie nach der Kirche
ging? und daß die, die ſie kannten, weiter nichts
ſagten, als: es iſt ja die Fraͤulein Clariſſa Harlo-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/55>, abgerufen am 04.05.2024.
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