Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



eben so demüthig seyn, als gegen seine grausamen
Verwandten.

Wenn ich auch den letzten Sturm wagen und ab-
geschlagen werden sollte, so kann doch ihr Haß, den
sie darüber gegen mich fasset, nicht von langer Dauer
seyn. Sie hat sich schon in den Augen der Welt
tadelhaft gemacht, und sie muß die Meinige werden,
wenn sie den Lästerungen dieser unverschämten Welt
entgehen will. Denn wer kennet mich, und wird
glauben, daß sie noch eben so rein sey als vorhin,
wenn ich sie nur vier und zwanzig Stunden in mei-
ner Gewalt gehabt hätte? Man wird zum wenig-
sten ihren Leib vor befleckt halten, wenn ihr Gemüth
gleich rein geblieben wäre. Das menschliche Hertz
ist über dieses so schelmisch, daß beyde Geschlechter
andere nach sich beurtheilen. Jedermann wird glau-
ben, daß die Neigung eines Frauenzimmers eben
eine so grosse Verführerin sey, als ich ein Verfüh-
rer bin, sonderlich wenn ein junges Frauenzimmer
in der besten Blüte so viel Liebe für die Manns-
Person hat, daß sie mit ihr durchgehen kann: denn
so muß ein jeder ihre Flucht erklären.

Sie ruft die Dorcas. Jch soll vermuthlich
ihre angenehme Stimme hören, und Gelegenheit
bekommen, mein Herz vor ihren Füssen auszuschüt-
ten, alle meine Gelübde und Eyd-Schwüre zu er-
neuern, und von ihr die Vergebung meiner bisheri-
gen Sünden zu empfangen. Mit wie vielem Ver-
gnügen will ich ein neues Kerb-Holtz anfangen, und
mir von neuen meine Sünden vergeben lassen. Die-
ses soll etliche mahl geschehen, bis ich endlich die

letzte
B 5



eben ſo demuͤthig ſeyn, als gegen ſeine grauſamen
Verwandten.

Wenn ich auch den letzten Sturm wagen und ab-
geſchlagen werden ſollte, ſo kann doch ihr Haß, den
ſie daruͤber gegen mich faſſet, nicht von langer Dauer
ſeyn. Sie hat ſich ſchon in den Augen der Welt
tadelhaft gemacht, und ſie muß die Meinige werden,
wenn ſie den Laͤſterungen dieſer unverſchaͤmten Welt
entgehen will. Denn wer kennet mich, und wird
glauben, daß ſie noch eben ſo rein ſey als vorhin,
wenn ich ſie nur vier und zwanzig Stunden in mei-
ner Gewalt gehabt haͤtte? Man wird zum wenig-
ſten ihren Leib vor befleckt halten, wenn ihr Gemuͤth
gleich rein geblieben waͤre. Das menſchliche Hertz
iſt uͤber dieſes ſo ſchelmiſch, daß beyde Geſchlechter
andere nach ſich beurtheilen. Jedermann wird glau-
ben, daß die Neigung eines Frauenzimmers eben
eine ſo groſſe Verfuͤhrerin ſey, als ich ein Verfuͤh-
rer bin, ſonderlich wenn ein junges Frauenzimmer
in der beſten Bluͤte ſo viel Liebe fuͤr die Manns-
Perſon hat, daß ſie mit ihr durchgehen kann: denn
ſo muß ein jeder ihre Flucht erklaͤren.

Sie ruft die Dorcas. Jch ſoll vermuthlich
ihre angenehme Stimme hoͤren, und Gelegenheit
bekommen, mein Herz vor ihren Fuͤſſen auszuſchuͤt-
ten, alle meine Geluͤbde und Eyd-Schwuͤre zu er-
neuern, und von ihr die Vergebung meiner bisheri-
gen Suͤnden zu empfangen. Mit wie vielem Ver-
gnuͤgen will ich ein neues Kerb-Holtz anfangen, und
mir von neuen meine Suͤnden vergeben laſſen. Die-
ſes ſoll etliche mahl geſchehen, bis ich endlich die

letzte
B 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0031" n="25"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
eben &#x017F;o demu&#x0364;thig &#x017F;eyn, als gegen &#x017F;eine grau&#x017F;amen<lb/>
Verwandten.</p><lb/>
          <p>Wenn ich auch den letzten Sturm wagen und ab-<lb/>
ge&#x017F;chlagen werden &#x017F;ollte, &#x017F;o kann doch ihr Haß, den<lb/>
&#x017F;ie daru&#x0364;ber gegen mich fa&#x017F;&#x017F;et, nicht von langer Dauer<lb/>
&#x017F;eyn. Sie hat &#x017F;ich &#x017F;chon in den Augen der Welt<lb/>
tadelhaft gemacht, und &#x017F;ie muß die Meinige werden,<lb/>
wenn &#x017F;ie den La&#x0364;&#x017F;terungen die&#x017F;er unver&#x017F;cha&#x0364;mten Welt<lb/>
entgehen will. Denn wer kennet mich, und wird<lb/>
glauben, daß &#x017F;ie noch eben &#x017F;o rein &#x017F;ey als vorhin,<lb/>
wenn ich &#x017F;ie nur vier und zwanzig Stunden in mei-<lb/>
ner Gewalt gehabt ha&#x0364;tte? Man wird zum wenig-<lb/>
&#x017F;ten ihren Leib vor befleckt halten, wenn ihr Gemu&#x0364;th<lb/>
gleich rein geblieben wa&#x0364;re. Das men&#x017F;chliche Hertz<lb/>
i&#x017F;t u&#x0364;ber die&#x017F;es &#x017F;o &#x017F;chelmi&#x017F;ch, daß beyde Ge&#x017F;chlechter<lb/>
andere nach &#x017F;ich beurtheilen. Jedermann wird glau-<lb/>
ben, daß die Neigung eines Frauenzimmers eben<lb/>
eine &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;e Verfu&#x0364;hrerin &#x017F;ey, als ich ein Verfu&#x0364;h-<lb/>
rer bin, &#x017F;onderlich wenn ein junges Frauenzimmer<lb/>
in der be&#x017F;ten Blu&#x0364;te &#x017F;o viel Liebe fu&#x0364;r die Manns-<lb/>
Per&#x017F;on hat, daß &#x017F;ie mit ihr durchgehen kann: denn<lb/>
&#x017F;o muß ein jeder ihre Flucht erkla&#x0364;ren.</p><lb/>
          <p>Sie ruft die <hi rendition="#fr">Dorcas.</hi> Jch &#x017F;oll vermuthlich<lb/>
ihre angenehme Stimme ho&#x0364;ren, und Gelegenheit<lb/>
bekommen, mein Herz vor ihren Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auszu&#x017F;chu&#x0364;t-<lb/>
ten, alle meine Gelu&#x0364;bde und Eyd-Schwu&#x0364;re zu er-<lb/>
neuern, und von ihr die Vergebung meiner bisheri-<lb/>
gen Su&#x0364;nden zu empfangen. Mit wie vielem Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen will ich ein neues Kerb-Holtz anfangen, und<lb/>
mir von neuen meine Su&#x0364;nden vergeben la&#x017F;&#x017F;en. Die-<lb/>
&#x017F;es &#x017F;oll etliche mahl ge&#x017F;chehen, bis ich endlich die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 5</fw><fw place="bottom" type="catch">letzte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0031] eben ſo demuͤthig ſeyn, als gegen ſeine grauſamen Verwandten. Wenn ich auch den letzten Sturm wagen und ab- geſchlagen werden ſollte, ſo kann doch ihr Haß, den ſie daruͤber gegen mich faſſet, nicht von langer Dauer ſeyn. Sie hat ſich ſchon in den Augen der Welt tadelhaft gemacht, und ſie muß die Meinige werden, wenn ſie den Laͤſterungen dieſer unverſchaͤmten Welt entgehen will. Denn wer kennet mich, und wird glauben, daß ſie noch eben ſo rein ſey als vorhin, wenn ich ſie nur vier und zwanzig Stunden in mei- ner Gewalt gehabt haͤtte? Man wird zum wenig- ſten ihren Leib vor befleckt halten, wenn ihr Gemuͤth gleich rein geblieben waͤre. Das menſchliche Hertz iſt uͤber dieſes ſo ſchelmiſch, daß beyde Geſchlechter andere nach ſich beurtheilen. Jedermann wird glau- ben, daß die Neigung eines Frauenzimmers eben eine ſo groſſe Verfuͤhrerin ſey, als ich ein Verfuͤh- rer bin, ſonderlich wenn ein junges Frauenzimmer in der beſten Bluͤte ſo viel Liebe fuͤr die Manns- Perſon hat, daß ſie mit ihr durchgehen kann: denn ſo muß ein jeder ihre Flucht erklaͤren. Sie ruft die Dorcas. Jch ſoll vermuthlich ihre angenehme Stimme hoͤren, und Gelegenheit bekommen, mein Herz vor ihren Fuͤſſen auszuſchuͤt- ten, alle meine Geluͤbde und Eyd-Schwuͤre zu er- neuern, und von ihr die Vergebung meiner bisheri- gen Suͤnden zu empfangen. Mit wie vielem Ver- gnuͤgen will ich ein neues Kerb-Holtz anfangen, und mir von neuen meine Suͤnden vergeben laſſen. Die- ſes ſoll etliche mahl geſchehen, bis ich endlich die letzte B 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/31
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/31>, abgerufen am 29.03.2024.