wirckliches Uebel. Hast du nicht bemercket, daß die Angst eines gefangenen Vögelchens, das wir in der Hand halten, viel geringer ist, als man hät- te vermuthen sollen, wenn man das kleine scheue Ding gesehen hätte, da es gefangen werden sollte?
Das gute Kind. Hat es noch nie von seiner ersten Kindheit an gelärmet? Hat es nie blinde Kuh ge- spielet? Weiß es nichts von Pfändern? Die un- schuldigen Freyheiten würden sie zu größeren Frey- heiten gewöhnet haben. Es ist schon eine Ent- heiligung, den Saum ihres Kleides zu berühren. Uebermäßig züchtig! Wie kann die heilige Schöne daran dencken, eine Frau zu werden?
Allein was kann ich hiervon sagen, ehe ich noch nicht alles versucht habe? Jch muß es auf eine sanftere Weise anfangen: ich muß versuchen, ob mir ein nächtlicher Ueberfall nicht glücklicher gelin- get. Denn mit dem Tage habe ich nichts mehr zu thun. Und endlich ist das Ende meines Liedes: ich kann sie heyrathen, wenn ich will. Und wenn ich das nach erhaltenem Siege thue, (ich mag nun diesen einem Ueberfall oder einem verstellten Wi- derstande zu dancken haben) so habe ich niemand beleidiget, als mich selbst.
Es ist jetzt eilf Uhr. Die Marichen Horton hat sie aus zärtlicher Freundschaft besucht, weil sie zu ihr das meiste Vertrauen hat. Zu dieser hat sie gesagt: sie wollte mich sprechen, so bald es ihr möglich wäre. Sie hat versichert, ihre hef- tige Gemüths-Bewegung sey nicht aus Eigensinn,
nicht
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wirckliches Uebel. Haſt du nicht bemercket, daß die Angſt eines gefangenen Voͤgelchens, das wir in der Hand halten, viel geringer iſt, als man haͤt- te vermuthen ſollen, wenn man das kleine ſcheue Ding geſehen haͤtte, da es gefangen werden ſollte?
Das gute Kind. Hat es noch nie von ſeiner erſten Kindheit an gelaͤrmet? Hat es nie blinde Kuh ge- ſpielet? Weiß es nichts von Pfaͤndern? Die un- ſchuldigen Freyheiten wuͤrden ſie zu groͤßeren Frey- heiten gewoͤhnet haben. Es iſt ſchon eine Ent- heiligung, den Saum ihres Kleides zu beruͤhren. Uebermaͤßig zuͤchtig! Wie kann die heilige Schoͤne daran dencken, eine Frau zu werden?
Allein was kann ich hiervon ſagen, ehe ich noch nicht alles verſucht habe? Jch muß es auf eine ſanftere Weiſe anfangen: ich muß verſuchen, ob mir ein naͤchtlicher Ueberfall nicht gluͤcklicher gelin- get. Denn mit dem Tage habe ich nichts mehr zu thun. Und endlich iſt das Ende meines Liedes: ich kann ſie heyrathen, wenn ich will. Und wenn ich das nach erhaltenem Siege thue, (ich mag nun dieſen einem Ueberfall oder einem verſtellten Wi- derſtande zu dancken haben) ſo habe ich niemand beleidiget, als mich ſelbſt.
Es iſt jetzt eilf Uhr. Die Marichen Horton hat ſie aus zaͤrtlicher Freundſchaft beſucht, weil ſie zu ihr das meiſte Vertrauen hat. Zu dieſer hat ſie geſagt: ſie wollte mich ſprechen, ſo bald es ihr moͤglich waͤre. Sie hat verſichert, ihre hef- tige Gemuͤths-Bewegung ſey nicht aus Eigenſinn,
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wirckliches Uebel. Haſt du nicht bemercket, daß
die Angſt eines gefangenen Voͤgelchens, das wir
in der Hand halten, viel geringer iſt, als man haͤt-
te vermuthen ſollen, wenn man das kleine ſcheue
Ding geſehen haͤtte, da es gefangen werden ſollte?
Das gute Kind. Hat es noch nie von ſeiner erſten
Kindheit an gelaͤrmet? Hat es nie blinde Kuh ge-
ſpielet? Weiß es nichts von Pfaͤndern? Die un-
ſchuldigen Freyheiten wuͤrden ſie zu groͤßeren Frey-
heiten gewoͤhnet haben. Es iſt ſchon eine Ent-
heiligung, den Saum ihres Kleides zu beruͤhren.
Uebermaͤßig zuͤchtig! Wie kann die heilige Schoͤne
daran dencken, eine Frau zu werden?
Allein was kann ich hiervon ſagen, ehe ich noch
nicht alles verſucht habe? Jch muß es auf eine
ſanftere Weiſe anfangen: ich muß verſuchen, ob
mir ein naͤchtlicher Ueberfall nicht gluͤcklicher gelin-
get. Denn mit dem Tage habe ich nichts mehr
zu thun. Und endlich iſt das Ende meines Liedes:
ich kann ſie heyrathen, wenn ich will. Und wenn
ich das nach erhaltenem Siege thue, (ich mag nun
dieſen einem Ueberfall oder einem verſtellten Wi-
derſtande zu dancken haben) ſo habe ich niemand
beleidiget, als mich ſelbſt.
Es iſt jetzt eilf Uhr. Die Marichen Horton
hat ſie aus zaͤrtlicher Freundſchaft beſucht, weil
ſie zu ihr das meiſte Vertrauen hat. Zu dieſer
hat ſie geſagt: ſie wollte mich ſprechen, ſo bald es
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/239>, abgerufen am 23.07.2024.
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