Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Jch glaube gantz und gar nicht, daß meine
Sachen so schlimm als sie meinen, ausgesehen haben
würden, wenn ich in meines Vaters Hause geblie-
ben wäre. Mein Vater hatte mich doch heimlich
lieb; und ich durfte ihn nur sehen, und Gelegenheit
haben mit ihm selbst zu reden; so würde ich zum
wenigsten einen Aufschub meines harten Urtheils
erhalten haben.

Sie rühmen sich ihrer Verdienste, und sie thun
wohl daran. Denn ich werde auf nichts als auf
Verdienste sehen. Jch würde mich selbst verach-
ten, wenn ich um des Gesichts und äusserlichen
Ansehens willen ihnen zugethan oder Herrn Sol-
mes
abgeneigt wäre. Und wenn sie sich blos um
des äusserlichen willen dem armen Solmes vor-
ziehen, so sind sie mir auch verächtlich. Sie mö-
gen sich ihrer eingebildeten Verdienste um mich
rühmen: allein ich halte das für meine Schande,
was sie für ihre Ehre ansehen. Bekümmern sie
sich um einen Anspruch an meine Zuneigung, den
ich selbst billigen kann: sonst werde ich ihnen nicht
verhalten können, daß sie in ihren eigenen Augen
grössere Verdienste haben, als in meinen.

Doch wir fangen an mit den ersten Sündern
einer den andern zu verklagen: zum wenigsten wer-
de ich ihnen in diesem Stück gleich, nachdem ich
aus meinen Paradies vertrieben bin. Sie sollen
nicht länger die Mühe haben, mir von ihrem Ley-
den
um meinet willen, von ihren Verdiensten,
von dem was sie alle Stunden und bey allem
Wetter
gethan haben, zu erzählen. Wenn es

mir
Dritter Theil. E


Jch glaube gantz und gar nicht, daß meine
Sachen ſo ſchlimm als ſie meinen, ausgeſehen haben
wuͤrden, wenn ich in meines Vaters Hauſe geblie-
ben waͤre. Mein Vater hatte mich doch heimlich
lieb; und ich durfte ihn nur ſehen, und Gelegenheit
haben mit ihm ſelbſt zu reden; ſo wuͤrde ich zum
wenigſten einen Aufſchub meines harten Urtheils
erhalten haben.

Sie ruͤhmen ſich ihrer Verdienſte, und ſie thun
wohl daran. Denn ich werde auf nichts als auf
Verdienſte ſehen. Jch wuͤrde mich ſelbſt verach-
ten, wenn ich um des Geſichts und aͤuſſerlichen
Anſehens willen ihnen zugethan oder Herrn Sol-
mes
abgeneigt waͤre. Und wenn ſie ſich blos um
des aͤuſſerlichen willen dem armen Solmes vor-
ziehen, ſo ſind ſie mir auch veraͤchtlich. Sie moͤ-
gen ſich ihrer eingebildeten Verdienſte um mich
ruͤhmen: allein ich halte das fuͤr meine Schande,
was ſie fuͤr ihre Ehre anſehen. Bekuͤmmern ſie
ſich um einen Anſpruch an meine Zuneigung, den
ich ſelbſt billigen kann: ſonſt werde ich ihnen nicht
verhalten koͤnnen, daß ſie in ihren eigenen Augen
groͤſſere Verdienſte haben, als in meinen.

Doch wir fangen an mit den erſten Suͤndern
einer den andern zu verklagen: zum wenigſten wer-
de ich ihnen in dieſem Stuͤck gleich, nachdem ich
aus meinen Paradies vertrieben bin. Sie ſollen
nicht laͤnger die Muͤhe haben, mir von ihrem Ley-
den
um meinet willen, von ihren Verdienſten,
von dem was ſie alle Stunden und bey allem
Wetter
gethan haben, zu erzaͤhlen. Wenn es

mir
Dritter Theil. E
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0079" n="65"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Jch glaube gantz und gar nicht, daß meine<lb/>
Sachen &#x017F;o &#x017F;chlimm als &#x017F;ie meinen, ausge&#x017F;ehen haben<lb/>
wu&#x0364;rden, wenn ich in meines Vaters Hau&#x017F;e geblie-<lb/>
ben wa&#x0364;re. Mein Vater hatte mich doch heimlich<lb/>
lieb; und ich durfte ihn nur &#x017F;ehen, und Gelegenheit<lb/>
haben mit ihm &#x017F;elb&#x017F;t zu reden; &#x017F;o wu&#x0364;rde ich zum<lb/>
wenig&#x017F;ten einen Auf&#x017F;chub meines harten Urtheils<lb/>
erhalten haben.</p><lb/>
          <p>Sie ru&#x0364;hmen &#x017F;ich ihrer Verdien&#x017F;te, und &#x017F;ie thun<lb/>
wohl daran. Denn ich werde auf nichts als auf<lb/>
Verdien&#x017F;te &#x017F;ehen. Jch wu&#x0364;rde mich &#x017F;elb&#x017F;t verach-<lb/>
ten, wenn ich um des Ge&#x017F;ichts und a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen<lb/>
An&#x017F;ehens willen ihnen zugethan oder Herrn <hi rendition="#fr">Sol-<lb/>
mes</hi> abgeneigt wa&#x0364;re. Und wenn &#x017F;ie &#x017F;ich blos um<lb/>
des a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen willen dem armen <hi rendition="#fr">Solmes</hi> vor-<lb/>
ziehen, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie mir auch vera&#x0364;chtlich. Sie mo&#x0364;-<lb/>
gen &#x017F;ich ihrer eingebildeten Verdien&#x017F;te um mich<lb/>
ru&#x0364;hmen: allein ich halte das fu&#x0364;r meine Schande,<lb/>
was &#x017F;ie fu&#x0364;r ihre Ehre an&#x017F;ehen. Beku&#x0364;mmern &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich um einen An&#x017F;pruch an meine Zuneigung, den<lb/>
ich &#x017F;elb&#x017F;t billigen kann: &#x017F;on&#x017F;t werde ich ihnen nicht<lb/>
verhalten ko&#x0364;nnen, daß &#x017F;ie in ihren eigenen Augen<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ere Verdien&#x017F;te haben, als in meinen.</p><lb/>
          <p>Doch wir fangen an mit den er&#x017F;ten Su&#x0364;ndern<lb/>
einer den andern zu verklagen: zum wenig&#x017F;ten wer-<lb/>
de ich ihnen in die&#x017F;em Stu&#x0364;ck gleich, nachdem ich<lb/>
aus meinen Paradies vertrieben bin. Sie &#x017F;ollen<lb/>
nicht la&#x0364;nger die Mu&#x0364;he haben, mir von ihrem <hi rendition="#fr">Ley-<lb/>
den</hi> um meinet willen, von ihren <hi rendition="#fr">Verdien&#x017F;ten,</hi><lb/>
von dem was &#x017F;ie <hi rendition="#fr">alle Stunden</hi> und bey <hi rendition="#fr">allem<lb/>
Wetter</hi> gethan haben, zu erza&#x0364;hlen. Wenn es<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Dritter Theil.</hi> E</fw><fw place="bottom" type="catch">mir</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0079] Jch glaube gantz und gar nicht, daß meine Sachen ſo ſchlimm als ſie meinen, ausgeſehen haben wuͤrden, wenn ich in meines Vaters Hauſe geblie- ben waͤre. Mein Vater hatte mich doch heimlich lieb; und ich durfte ihn nur ſehen, und Gelegenheit haben mit ihm ſelbſt zu reden; ſo wuͤrde ich zum wenigſten einen Aufſchub meines harten Urtheils erhalten haben. Sie ruͤhmen ſich ihrer Verdienſte, und ſie thun wohl daran. Denn ich werde auf nichts als auf Verdienſte ſehen. Jch wuͤrde mich ſelbſt verach- ten, wenn ich um des Geſichts und aͤuſſerlichen Anſehens willen ihnen zugethan oder Herrn Sol- mes abgeneigt waͤre. Und wenn ſie ſich blos um des aͤuſſerlichen willen dem armen Solmes vor- ziehen, ſo ſind ſie mir auch veraͤchtlich. Sie moͤ- gen ſich ihrer eingebildeten Verdienſte um mich ruͤhmen: allein ich halte das fuͤr meine Schande, was ſie fuͤr ihre Ehre anſehen. Bekuͤmmern ſie ſich um einen Anſpruch an meine Zuneigung, den ich ſelbſt billigen kann: ſonſt werde ich ihnen nicht verhalten koͤnnen, daß ſie in ihren eigenen Augen groͤſſere Verdienſte haben, als in meinen. Doch wir fangen an mit den erſten Suͤndern einer den andern zu verklagen: zum wenigſten wer- de ich ihnen in dieſem Stuͤck gleich, nachdem ich aus meinen Paradies vertrieben bin. Sie ſollen nicht laͤnger die Muͤhe haben, mir von ihrem Ley- den um meinet willen, von ihren Verdienſten, von dem was ſie alle Stunden und bey allem Wetter gethan haben, zu erzaͤhlen. Wenn es mir Dritter Theil. E

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/79
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/79>, abgerufen am 01.05.2024.