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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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schreiben noch geschriebenes lesen, weil sie in der
Jugend versäumt wäre. Allein an Demuth, Treue,
und Dienstfertigkeit würde ich ihres gleichen nicht
finden. Sie rühmte sie auch, daß sie schöne Arbeit
machen könnte. Jhren einzigen Fehler kann ich
ihr leicht vergeben. Sie ist angenehm und wohl-
gezogen, ja bey nahe für eine Bediente allzu
wohlgezogen. Was mir mißfällt, ist ihr schlaues
schelmisches Auge: ich habe noch niemahls so li-
stige Augen gesehen. Es scheint auch etwas drei-
stes in ihren Augen zu seyn. Allein Frau Sin-
clairs
selbst (denn so heist die Witwe) hat win-
ckende Augen. Jhre Ehrerbietung scheint mir
künstlicher zu seyn, als ich sie in einer Stadt von so
freyer Lebens-Art als London ist, erwartet hätte.
Die Dorcas (denn so heist das Mädchen) soll
nicht lange bey mir bleiben.

Jch nahm sie an, denn wie konnte ich es anders
machen! Wenn ich gleich einige Einwendungen hät-
te machen wollen, welches ich doch in meinen jetzigen
Umständen nicht thun wollte, so war ihre Base und
das Mädchen gegenwärtig, und Herr Lovelace
gab sich selbst die Mühe, sie aus Gefälligkeit gegen
mich auf meine Stube zu führen. Als sie weggin-
gen, und ich merckte, daß er Lust hätte bey mir zu
bleiben, sagte ich: ich bäte mir zum voraus aus,
daß ich auf diesem Zimmer immer einsam möchte
seyn können. Wenn ich ihn spräche, so müßte es
in dem Speise-Zimmer geschehen: ich wünschte,
daß ich hier nicht leicht möchte gestöret werden. Er

suchte



ſchreiben noch geſchriebenes leſen, weil ſie in der
Jugend verſaͤumt waͤre. Allein an Demuth, Treue,
und Dienſtfertigkeit wuͤrde ich ihres gleichen nicht
finden. Sie ruͤhmte ſie auch, daß ſie ſchoͤne Arbeit
machen koͤnnte. Jhren einzigen Fehler kann ich
ihr leicht vergeben. Sie iſt angenehm und wohl-
gezogen, ja bey nahe fuͤr eine Bediente allzu
wohlgezogen. Was mir mißfaͤllt, iſt ihr ſchlaues
ſchelmiſches Auge: ich habe noch niemahls ſo li-
ſtige Augen geſehen. Es ſcheint auch etwas drei-
ſtes in ihren Augen zu ſeyn. Allein Frau Sin-
clairs
ſelbſt (denn ſo heiſt die Witwe) hat win-
ckende Augen. Jhre Ehrerbietung ſcheint mir
kuͤnſtlicher zu ſeyn, als ich ſie in einer Stadt von ſo
freyer Lebens-Art als London iſt, erwartet haͤtte.
Die Dorcas (denn ſo heiſt das Maͤdchen) ſoll
nicht lange bey mir bleiben.

Jch nahm ſie an, denn wie konnte ich es anders
machen! Wenn ich gleich einige Einwendungen haͤt-
te machen wollen, welches ich doch in meinen jetzigen
Umſtaͤnden nicht thun wollte, ſo war ihre Baſe und
das Maͤdchen gegenwaͤrtig, und Herr Lovelace
gab ſich ſelbſt die Muͤhe, ſie aus Gefaͤlligkeit gegen
mich auf meine Stube zu fuͤhren. Als ſie weggin-
gen, und ich merckte, daß er Luſt haͤtte bey mir zu
bleiben, ſagte ich: ich baͤte mir zum voraus aus,
daß ich auf dieſem Zimmer immer einſam moͤchte
ſeyn koͤnnen. Wenn ich ihn ſpraͤche, ſo muͤßte es
in dem Speiſe-Zimmer geſchehen: ich wuͤnſchte,
daß ich hier nicht leicht moͤchte geſtoͤret werden. Er

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[445/0459] ſchreiben noch geſchriebenes leſen, weil ſie in der Jugend verſaͤumt waͤre. Allein an Demuth, Treue, und Dienſtfertigkeit wuͤrde ich ihres gleichen nicht finden. Sie ruͤhmte ſie auch, daß ſie ſchoͤne Arbeit machen koͤnnte. Jhren einzigen Fehler kann ich ihr leicht vergeben. Sie iſt angenehm und wohl- gezogen, ja bey nahe fuͤr eine Bediente allzu wohlgezogen. Was mir mißfaͤllt, iſt ihr ſchlaues ſchelmiſches Auge: ich habe noch niemahls ſo li- ſtige Augen geſehen. Es ſcheint auch etwas drei- ſtes in ihren Augen zu ſeyn. Allein Frau Sin- clairs ſelbſt (denn ſo heiſt die Witwe) hat win- ckende Augen. Jhre Ehrerbietung ſcheint mir kuͤnſtlicher zu ſeyn, als ich ſie in einer Stadt von ſo freyer Lebens-Art als London iſt, erwartet haͤtte. Die Dorcas (denn ſo heiſt das Maͤdchen) ſoll nicht lange bey mir bleiben. Jch nahm ſie an, denn wie konnte ich es anders machen! Wenn ich gleich einige Einwendungen haͤt- te machen wollen, welches ich doch in meinen jetzigen Umſtaͤnden nicht thun wollte, ſo war ihre Baſe und das Maͤdchen gegenwaͤrtig, und Herr Lovelace gab ſich ſelbſt die Muͤhe, ſie aus Gefaͤlligkeit gegen mich auf meine Stube zu fuͤhren. Als ſie weggin- gen, und ich merckte, daß er Luſt haͤtte bey mir zu bleiben, ſagte ich: ich baͤte mir zum voraus aus, daß ich auf dieſem Zimmer immer einſam moͤchte ſeyn koͤnnen. Wenn ich ihn ſpraͤche, ſo muͤßte es in dem Speiſe-Zimmer geſchehen: ich wuͤnſchte, daß ich hier nicht leicht moͤchte geſtoͤret werden. Er ſuchte

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/459>, abgerufen am 24.11.2024.