suchte auf eine sehr ehrerbietige Weise die Thür, und bat mich, daß ich ihm meine Gesellschaft in dem Speise-Zimmer gönnen möchte. Jch antwortete: wenn er jetzt eben in seine neue Wohnung ziehen, und mich verlassen wollte, so wollte ich mit ihm hin- unter gehen; wenn es aber noch Aufschub litte, so wünschte ich meinen Brief an Sie vorher zu endigen.
Jch sehe, daß er gar keine Lust hat mich zu ver- lassen, falls er dessen Umgang haben kann. Mei- nes Bruders Anschläge können ihm einen Vorwand geben, mich zu bitten, daß ich ihn seines Verspre- chens erlassen soll. Allein wenn ich es jetzt thue, so ist die Folge davon, daß er immer um mich blei- ben wird.
Dadurch, daß ich sein freundliches Bezeigen wohl aufgenommen habe, als ich mich in der grösse- sten Traurigkeit befand, glaubt er ein Recht zu ha- ben, alle die Freyheiten gegen mich zu gebrauchen, die einem Liebhaber, den wir zu lieben und zu hoffen erlauben, vergönnet sind. Jch lerne bey ihm die Wahrheit: daß ein Frauenzimmer nicht zurück ge- hehen kann, wenn es nur einen Schritt mit diesem Geschlechte gewaget hat. Eine jede Erlaubniß ziehet eine neue Erlaubniß nach sich. Seit Sonntages hat er nicht aufgehöret, sich darüber zu beschweren, daß ich so fremde gegen ihn bin: er unterstehet sich mir daraus einen Vorwurf zu machen, daß er an meiner Werthachtung gegen sich zweiffeln müsse, und diesen Zweifel gründet er darauf, daß ich be- reit bin, ihm zu entsagen, wenn dieses eine Bedin- gung der Versöhnung mit den Meinigen seyn sollte.
Und
ſuchte auf eine ſehr ehrerbietige Weiſe die Thuͤr, und bat mich, daß ich ihm meine Geſellſchaft in dem Speiſe-Zimmer goͤnnen moͤchte. Jch antwortete: wenn er jetzt eben in ſeine neue Wohnung ziehen, und mich verlaſſen wollte, ſo wollte ich mit ihm hin- unter gehen; wenn es aber noch Aufſchub litte, ſo wuͤnſchte ich meinen Brief an Sie vorher zu endigen.
Jch ſehe, daß er gar keine Luſt hat mich zu ver- laſſen, falls er deſſen Umgang haben kann. Mei- nes Bruders Anſchlaͤge koͤnnen ihm einen Vorwand geben, mich zu bitten, daß ich ihn ſeines Verſpre- chens erlaſſen ſoll. Allein wenn ich es jetzt thue, ſo iſt die Folge davon, daß er immer um mich blei- ben wird.
Dadurch, daß ich ſein freundliches Bezeigen wohl aufgenommen habe, als ich mich in der groͤſſe- ſten Traurigkeit befand, glaubt er ein Recht zu ha- ben, alle die Freyheiten gegen mich zu gebrauchen, die einem Liebhaber, den wir zu lieben und zu hoffen erlauben, vergoͤnnet ſind. Jch lerne bey ihm die Wahrheit: daß ein Frauenzimmer nicht zuruͤck ge- hehen kann, wenn es nur einen Schritt mit dieſem Geſchlechte gewaget hat. Eine jede Erlaubniß ziehet eine neue Erlaubniß nach ſich. Seit Sonntages hat er nicht aufgehoͤret, ſich daruͤber zu beſchweren, daß ich ſo fremde gegen ihn bin: er unterſtehet ſich mir daraus einen Vorwurf zu machen, daß er an meiner Werthachtung gegen ſich zweiffeln muͤſſe, und dieſen Zweifel gruͤndet er darauf, daß ich be- reit bin, ihm zu entſagen, wenn dieſes eine Bedin- gung der Verſoͤhnung mit den Meinigen ſeyn ſollte.
Und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0460"n="446"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>ſuchte auf eine ſehr ehrerbietige Weiſe die Thuͤr,<lb/>
und bat mich, daß ich ihm meine Geſellſchaft in dem<lb/>
Speiſe-Zimmer goͤnnen moͤchte. Jch antwortete:<lb/>
wenn er jetzt eben in ſeine neue Wohnung ziehen,<lb/>
und mich verlaſſen wollte, ſo wollte ich mit ihm hin-<lb/>
unter gehen; wenn es aber noch Aufſchub litte, ſo<lb/>
wuͤnſchte ich meinen Brief an Sie vorher zu endigen.</p><lb/><p>Jch ſehe, daß er gar keine Luſt hat mich zu ver-<lb/>
laſſen, falls er deſſen Umgang haben kann. Mei-<lb/>
nes Bruders Anſchlaͤge koͤnnen ihm einen Vorwand<lb/>
geben, mich zu bitten, daß ich ihn ſeines Verſpre-<lb/>
chens erlaſſen ſoll. Allein wenn ich es jetzt thue,<lb/>ſo iſt die Folge davon, daß er immer um mich blei-<lb/>
ben wird.</p><lb/><p>Dadurch, daß ich ſein freundliches Bezeigen<lb/>
wohl aufgenommen habe, als ich mich in der groͤſſe-<lb/>ſten Traurigkeit befand, glaubt er ein Recht zu ha-<lb/>
ben, alle die Freyheiten gegen mich zu gebrauchen,<lb/>
die einem Liebhaber, den wir zu lieben und zu hoffen<lb/>
erlauben, vergoͤnnet ſind. Jch lerne bey ihm die<lb/>
Wahrheit: daß ein Frauenzimmer nicht zuruͤck ge-<lb/>
hehen kann, wenn es nur einen Schritt mit dieſem<lb/>
Geſchlechte gewaget hat. Eine jede Erlaubniß ziehet<lb/>
eine neue Erlaubniß nach ſich. Seit Sonntages hat<lb/>
er nicht aufgehoͤret, ſich daruͤber zu beſchweren, daß<lb/>
ich ſo fremde gegen ihn bin: er unterſtehet ſich mir<lb/>
daraus einen Vorwurf zu machen, daß er an<lb/>
meiner Werthachtung gegen ſich zweiffeln muͤſſe,<lb/>
und dieſen Zweifel gruͤndet er darauf, daß ich be-<lb/>
reit bin, ihm zu entſagen, wenn dieſes eine Bedin-<lb/>
gung der Verſoͤhnung mit den Meinigen ſeyn ſollte.<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Und</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[446/0460]
ſuchte auf eine ſehr ehrerbietige Weiſe die Thuͤr,
und bat mich, daß ich ihm meine Geſellſchaft in dem
Speiſe-Zimmer goͤnnen moͤchte. Jch antwortete:
wenn er jetzt eben in ſeine neue Wohnung ziehen,
und mich verlaſſen wollte, ſo wollte ich mit ihm hin-
unter gehen; wenn es aber noch Aufſchub litte, ſo
wuͤnſchte ich meinen Brief an Sie vorher zu endigen.
Jch ſehe, daß er gar keine Luſt hat mich zu ver-
laſſen, falls er deſſen Umgang haben kann. Mei-
nes Bruders Anſchlaͤge koͤnnen ihm einen Vorwand
geben, mich zu bitten, daß ich ihn ſeines Verſpre-
chens erlaſſen ſoll. Allein wenn ich es jetzt thue,
ſo iſt die Folge davon, daß er immer um mich blei-
ben wird.
Dadurch, daß ich ſein freundliches Bezeigen
wohl aufgenommen habe, als ich mich in der groͤſſe-
ſten Traurigkeit befand, glaubt er ein Recht zu ha-
ben, alle die Freyheiten gegen mich zu gebrauchen,
die einem Liebhaber, den wir zu lieben und zu hoffen
erlauben, vergoͤnnet ſind. Jch lerne bey ihm die
Wahrheit: daß ein Frauenzimmer nicht zuruͤck ge-
hehen kann, wenn es nur einen Schritt mit dieſem
Geſchlechte gewaget hat. Eine jede Erlaubniß ziehet
eine neue Erlaubniß nach ſich. Seit Sonntages hat
er nicht aufgehoͤret, ſich daruͤber zu beſchweren, daß
ich ſo fremde gegen ihn bin: er unterſtehet ſich mir
daraus einen Vorwurf zu machen, daß er an
meiner Werthachtung gegen ſich zweiffeln muͤſſe,
und dieſen Zweifel gruͤndet er darauf, daß ich be-
reit bin, ihm zu entſagen, wenn dieſes eine Bedin-
gung der Verſoͤhnung mit den Meinigen ſeyn ſollte.
Und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/460>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.