er eine recht himmlisch keusche Frau verlanget, ob ihm gleich der Himmel die Gabe der Keuschheit nicht verliehen hat.
Was meine Clarissa anlanget, so kann ich kaum glauben, daß jemahls ein solcher Engel un- ter den Schönen gewesen ist. Allein hat sie nicht nach ihrem eigenen Urtheil gesündiget? Hat sie nicht Dinge unternommen, die weder die Welt noch ihre Familie jemahls von ihr erwartet hätten? und die ihr die Jhrigen nicht vergeben wollen?
Verwundere dich nicht, daß ich keine Entschul- digung anhören will, wenn die Rede von einem Muster der Tugend ist. Alsdenn gelten alle Ver- anlassungen nicht, dadurch sie gezwungen, da- durch sie auf das äusserste getrieben zu seyn scheinet. Versuchungen sind eben der Probier-Stein der Tugend. Ein Muster der Tugend muß sich durch nichts so weit treiben lassen, daß es aufhöre ein Muster zu seyn.
Kann mein bisheriges Glück mich nicht reitzen, mein Glück noch weiter zu wagen? Es ist nur ein Versuch, Bruder. Wer will für diese göttliche Clarissa besorgt seyn, wenn sie in Versuchung ge- führet wird? Du weißt, daß ich einige mahl einen solchen Versuch bey Frauenzimmern von gutem Stande gewagt habe; und keine hat mir einen Monath lang widerstehen können, keine hat meine Erfindungen erschöpft. Jch habe daraus einen Schluß gemacht, und das gantze Geschlecht verur- theilet. Weil ich noch keine unüberwindliche Tu- gend angetroffen habe, so habe ich schwören wollen,
daß
er eine recht himmliſch keuſche Frau verlanget, ob ihm gleich der Himmel die Gabe der Keuſchheit nicht verliehen hat.
Was meine Clariſſa anlanget, ſo kann ich kaum glauben, daß jemahls ein ſolcher Engel un- ter den Schoͤnen geweſen iſt. Allein hat ſie nicht nach ihrem eigenen Urtheil geſuͤndiget? Hat ſie nicht Dinge unternommen, die weder die Welt noch ihre Familie jemahls von ihr erwartet haͤtten? und die ihr die Jhrigen nicht vergeben wollen?
Verwundere dich nicht, daß ich keine Entſchul- digung anhoͤren will, wenn die Rede von einem Muſter der Tugend iſt. Alsdenn gelten alle Ver- anlaſſungen nicht, dadurch ſie gezwungen, da- durch ſie auf das aͤuſſerſte getrieben zu ſeyn ſcheinet. Verſuchungen ſind eben der Probier-Stein der Tugend. Ein Muſter der Tugend muß ſich durch nichts ſo weit treiben laſſen, daß es aufhoͤre ein Muſter zu ſeyn.
Kann mein bisheriges Gluͤck mich nicht reitzen, mein Gluͤck noch weiter zu wagen? Es iſt nur ein Verſuch, Bruder. Wer will fuͤr dieſe goͤttliche Clariſſa beſorgt ſeyn, wenn ſie in Verſuchung ge- fuͤhret wird? Du weißt, daß ich einige mahl einen ſolchen Verſuch bey Frauenzimmern von gutem Stande gewagt habe; und keine hat mir einen Monath lang widerſtehen koͤnnen, keine hat meine Erfindungen erſchoͤpft. Jch habe daraus einen Schluß gemacht, und das gantze Geſchlecht verur- theilet. Weil ich noch keine unuͤberwindliche Tu- gend angetroffen habe, ſo habe ich ſchwoͤren wollen,
daß
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0189"n="175"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
er eine recht himmliſch keuſche Frau verlanget, ob<lb/>
ihm gleich der Himmel die Gabe der Keuſchheit<lb/>
nicht verliehen hat.</p><lb/><p>Was meine <hirendition="#fr">Clariſſa</hi> anlanget, ſo kann ich<lb/>
kaum glauben, daß jemahls ein ſolcher Engel un-<lb/>
ter den Schoͤnen geweſen iſt. Allein hat ſie nicht<lb/>
nach ihrem eigenen Urtheil geſuͤndiget? Hat ſie<lb/>
nicht Dinge unternommen, die weder die Welt<lb/>
noch ihre Familie jemahls von ihr erwartet haͤtten?<lb/>
und die ihr die Jhrigen nicht vergeben wollen?</p><lb/><p>Verwundere dich nicht, daß ich keine Entſchul-<lb/>
digung anhoͤren will, wenn die Rede von einem<lb/>
Muſter der Tugend iſt. Alsdenn gelten alle Ver-<lb/>
anlaſſungen nicht, dadurch ſie gezwungen, da-<lb/>
durch ſie auf das aͤuſſerſte getrieben zu ſeyn ſcheinet.<lb/>
Verſuchungen ſind eben der Probier-Stein der<lb/>
Tugend. Ein Muſter der Tugend muß ſich durch<lb/>
nichts ſo weit treiben laſſen, daß es aufhoͤre ein<lb/>
Muſter zu ſeyn.</p><lb/><p>Kann mein bisheriges Gluͤck mich nicht reitzen,<lb/>
mein Gluͤck noch weiter zu wagen? Es iſt nur ein<lb/>
Verſuch, Bruder. Wer will fuͤr dieſe goͤttliche<lb/><hirendition="#fr">Clariſſa</hi> beſorgt ſeyn, wenn ſie in Verſuchung ge-<lb/>
fuͤhret wird? Du weißt, daß ich einige mahl einen<lb/>ſolchen Verſuch bey Frauenzimmern von gutem<lb/>
Stande gewagt habe; und keine hat mir einen<lb/>
Monath lang widerſtehen koͤnnen, keine hat meine<lb/>
Erfindungen erſchoͤpft. Jch habe daraus einen<lb/>
Schluß gemacht, und das gantze Geſchlecht verur-<lb/>
theilet. Weil ich noch keine unuͤberwindliche Tu-<lb/>
gend angetroffen habe, ſo habe ich ſchwoͤren wollen,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">daß</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[175/0189]
er eine recht himmliſch keuſche Frau verlanget, ob
ihm gleich der Himmel die Gabe der Keuſchheit
nicht verliehen hat.
Was meine Clariſſa anlanget, ſo kann ich
kaum glauben, daß jemahls ein ſolcher Engel un-
ter den Schoͤnen geweſen iſt. Allein hat ſie nicht
nach ihrem eigenen Urtheil geſuͤndiget? Hat ſie
nicht Dinge unternommen, die weder die Welt
noch ihre Familie jemahls von ihr erwartet haͤtten?
und die ihr die Jhrigen nicht vergeben wollen?
Verwundere dich nicht, daß ich keine Entſchul-
digung anhoͤren will, wenn die Rede von einem
Muſter der Tugend iſt. Alsdenn gelten alle Ver-
anlaſſungen nicht, dadurch ſie gezwungen, da-
durch ſie auf das aͤuſſerſte getrieben zu ſeyn ſcheinet.
Verſuchungen ſind eben der Probier-Stein der
Tugend. Ein Muſter der Tugend muß ſich durch
nichts ſo weit treiben laſſen, daß es aufhoͤre ein
Muſter zu ſeyn.
Kann mein bisheriges Gluͤck mich nicht reitzen,
mein Gluͤck noch weiter zu wagen? Es iſt nur ein
Verſuch, Bruder. Wer will fuͤr dieſe goͤttliche
Clariſſa beſorgt ſeyn, wenn ſie in Verſuchung ge-
fuͤhret wird? Du weißt, daß ich einige mahl einen
ſolchen Verſuch bey Frauenzimmern von gutem
Stande gewagt habe; und keine hat mir einen
Monath lang widerſtehen koͤnnen, keine hat meine
Erfindungen erſchoͤpft. Jch habe daraus einen
Schluß gemacht, und das gantze Geſchlecht verur-
theilet. Weil ich noch keine unuͤberwindliche Tu-
gend angetroffen habe, ſo habe ich ſchwoͤren wollen,
daß
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/189>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.