ausgeschlossen, oder doch ihr Erbtheil geschmäh- lert wird; indem er glaubt, daß es insgesammt seine eigene Kinder sind. Jn den Augen Gottes können diese beyden Versündigungen gewiß nicht gleich seyn. Jch habe auch an einem Orte in der Bibel gelesen, daß das Weib um des Mannes willen gemacht ist, und nicht der Mann um des Weibes willen. Der Mangel der Tugend ist folglich bey dem Frauenzimmer weniger als bey uns zu entschuldigen.
Wie ist mir? Würde nicht einer, der frömmer ist als du, sagen: und du Lovelace forderst eine solche Vollkommenheit von dem Frauenzimmer?
Ja! will ich antworten. War nicht der grosse Cäsar ein Verführer der Frauens-Leute? Nenne- ten ihn nicht seine Soldaten bey dem Triumph ei- nen kahlköpfigten Ehebrecher? Warneten sie nicht öffentlich die Weiber und Töchter seiner Mit- bürger? Und dennoch gab Cäsar seiner Frau einen Scheide-Brief, weil sie mit dem Clodius in Ge- sellschaft gewesen war, oder vielmehr weil Clodius sich in ihre Gesellschaft eingeschlichen hatte, und entdeckt ward. Was war die Ursache, die er an- gab: Cäsars Frau muß in keinem übeln Ver- dacht stehen!
Cäsar hatte keine hochmüthigere Seele als Lo- velace.
Gehe damit hin, Bruder, und tadele Love- lacen nicht, laß ihn auch nicht von andern geta- delt werden. Sage nicht, daß einer, der sich seiner Vorfahren rühmen kann, zu viel verlanget, wenn
er
ausgeſchloſſen, oder doch ihr Erbtheil geſchmaͤh- lert wird; indem er glaubt, daß es insgeſammt ſeine eigene Kinder ſind. Jn den Augen Gottes koͤnnen dieſe beyden Verſuͤndigungen gewiß nicht gleich ſeyn. Jch habe auch an einem Orte in der Bibel geleſen, daß das Weib um des Mannes willen gemacht iſt, und nicht der Mann um des Weibes willen. Der Mangel der Tugend iſt folglich bey dem Frauenzimmer weniger als bey uns zu entſchuldigen.
Wie iſt mir? Wuͤrde nicht einer, der froͤmmer iſt als du, ſagen: und du Lovelace forderſt eine ſolche Vollkommenheit von dem Frauenzimmer?
Ja! will ich antworten. War nicht der groſſe Caͤſar ein Verfuͤhrer der Frauens-Leute? Nenne- ten ihn nicht ſeine Soldaten bey dem Triumph ei- nen kahlkoͤpfigten Ehebrecher? Warneten ſie nicht oͤffentlich die Weiber und Toͤchter ſeiner Mit- buͤrger? Und dennoch gab Caͤſar ſeiner Frau einen Scheide-Brief, weil ſie mit dem Clodius in Ge- ſellſchaft geweſen war, oder vielmehr weil Clodius ſich in ihre Geſellſchaft eingeſchlichen hatte, und entdeckt ward. Was war die Urſache, die er an- gab: Caͤſars Frau muß in keinem uͤbeln Ver- dacht ſtehen!
Caͤſar hatte keine hochmuͤthigere Seele als Lo- velace.
Gehe damit hin, Bruder, und tadele Love- lacen nicht, laß ihn auch nicht von andern geta- delt werden. Sage nicht, daß einer, der ſich ſeiner Vorfahren ruͤhmen kann, zu viel verlanget, wenn
er
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ausgeſchloſſen, oder doch ihr Erbtheil geſchmaͤh-
lert wird; indem er glaubt, daß es insgeſammt
ſeine eigene Kinder ſind. Jn den Augen Gottes
koͤnnen dieſe beyden Verſuͤndigungen gewiß nicht
gleich ſeyn. Jch habe auch an einem Orte in der
Bibel geleſen, daß das Weib um des Mannes
willen gemacht iſt, und nicht der Mann um
des Weibes willen. Der Mangel der Tugend
iſt folglich bey dem Frauenzimmer weniger als bey
uns zu entſchuldigen.
Wie iſt mir? Wuͤrde nicht einer, der froͤmmer
iſt als du, ſagen: und du Lovelace forderſt eine
ſolche Vollkommenheit von dem Frauenzimmer?
Ja! will ich antworten. War nicht der groſſe
Caͤſar ein Verfuͤhrer der Frauens-Leute? Nenne-
ten ihn nicht ſeine Soldaten bey dem Triumph ei-
nen kahlkoͤpfigten Ehebrecher? Warneten ſie
nicht oͤffentlich die Weiber und Toͤchter ſeiner Mit-
buͤrger? Und dennoch gab Caͤſar ſeiner Frau einen
Scheide-Brief, weil ſie mit dem Clodius in Ge-
ſellſchaft geweſen war, oder vielmehr weil Clodius
ſich in ihre Geſellſchaft eingeſchlichen hatte, und
entdeckt ward. Was war die Urſache, die er an-
gab: Caͤſars Frau muß in keinem uͤbeln Ver-
dacht ſtehen!
Caͤſar hatte keine hochmuͤthigere Seele als Lo-
velace.
Gehe damit hin, Bruder, und tadele Love-
lacen nicht, laß ihn auch nicht von andern geta-
delt werden. Sage nicht, daß einer, der ſich ſeiner
Vorfahren ruͤhmen kann, zu viel verlanget, wenn
er
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/188>, abgerufen am 24.11.2024.
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