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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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Jch bin nicht ihr Ankläger. Jch überlege die
Sache nur von beyden Seiten, und in meinem
Hertzen spreche ich mein himmlisches Kind los, und
verehre es. Allein ich will genau untersuchen, ob
ich sie nach Verdienst oder aus der Schwachheit,
die man Liebe nennet, losspreche.

Wir wollen einmahl setzen, daß sie einen an-
dern Bewegungs-Grund gehabt, dieses zu thun:
so ist es die Liebe gewesen. Die gantze Welt
würde sie deswegen entschuldigen. Allein ich will
auch der gantzen Welt sagen, daß sie dieses thut,
nicht weil es Recht ist, sondern weil sie sich gern
verleiten läßt.

So sey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund!
Die Liebe zu wem?

Zu einem Lovelace!

Jst aber nur Ein Lovelace in der Welt?
können nicht mehrere Lovelacen seyn, die sich in
ihre Gestalt und in ihre unvergleichlichen Eigen-
schaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerst;
ihre Schönheit und Verstand machten meine Ket-
ten stärcker: alle diese Eigenschaften zusammen ge-
nommen, machen, daß ich sie jetzt für würdig an-
sehe, mich im Ernst um sie zu bewerben.

Hat sie aber so viel Aufrichtigkeit, hat sie ein
so offenes Hertz, daß sie ihre Liebe gestehet?

Nein! das hat sie nicht.

Wenn es denn im Grunde doch Liebe ist, so frage
ich, ist nicht noch ein Laster unter dem Schatten
der Liebe versteckt? Hat sie etwas gezwungenes?
Oder ist es Hochmuth?

Was


Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die
Sache nur von beyden Seiten, und in meinem
Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und
verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob
ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit,
die man Liebe nennet, losſpreche.

Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an-
dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun:
ſo iſt es die Liebe geweſen. Die gantze Welt
wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will
auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut,
nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern
verleiten laͤßt.

So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund!
Die Liebe zu wem?

Zu einem Lovelace!

Jſt aber nur Ein Lovelace in der Welt?
koͤnnen nicht mehrere Lovelacen ſeyn, die ſich in
ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen-
ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt;
ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket-
ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge-
nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an-
ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben.

Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein
ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet?

Nein! das hat ſie nicht.

Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage
ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten
der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes?
Oder iſt es Hochmuth?

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[171/0185] Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die Sache nur von beyden Seiten, und in meinem Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit, die man Liebe nennet, losſpreche. Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an- dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun: ſo iſt es die Liebe geweſen. Die gantze Welt wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut, nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern verleiten laͤßt. So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund! Die Liebe zu wem? Zu einem Lovelace! Jſt aber nur Ein Lovelace in der Welt? koͤnnen nicht mehrere Lovelacen ſeyn, die ſich in ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen- ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt; ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket- ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge- nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an- ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben. Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet? Nein! das hat ſie nicht. Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes? Oder iſt es Hochmuth? Was

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/185>, abgerufen am 04.05.2024.