Fuhr sie nicht wider ihrer Eltern Verbot fort, Briefe mit mir zu wechseln?
Das gestehet sie selbst.
Hat jemahls eine Tochter einen stärckern Ein- druck von dem Umfang der Pflichten des vierten Gebotes gehabt, als sie?
Niemahls!
Wie starck müssen denn die Triebe gewesen seyn, die eine so gehorsame Tochter zum Ungehorsam verleitet haben? Was mußte ich vor Gedancken von ihnen hegen? Was für Hofnung mußte ich darauf bauen, so lange ich alles von dieser Seite ansahe?
Allein hier kann eingewandt werden, daß ihre vornehmste Absicht war, ein Unglück zu verhüten, das zwischen ihrem Bruder und Verwanten, und dem Manne, dem jene so bäurisch begegneten, vorgehen möchte.
Warum bekümmerte sie sich aber um andere, die sich um sie nicht bekümmern? War nicht ihrer Sorgfalt ohngeachtet die Schlägerey vorgegangen? Welche tugendhafte Person wird ihre Schein- Pflicht, die sie selbst für Pflicht erkennet, um ir- gend einer Ursache willen übertreten? Vielweniger hätte sie sich durch die Begierde, ein ungewisses Uebel zu verhüten, sollen verleiten lassen.
Fällst du mir nicht schon wieder in die Rede, und sprichst: du Lovelace warst vorhin der Verführer? und jetzt wirst du der Ankläger?
Jch
Auf die That, auf den Jrrthum ſelbſt kommt es an.
Fuhr ſie nicht wider ihrer Eltern Verbot fort, Briefe mit mir zu wechſeln?
Das geſtehet ſie ſelbſt.
Hat jemahls eine Tochter einen ſtaͤrckern Ein- druck von dem Umfang der Pflichten des vierten Gebotes gehabt, als ſie?
Niemahls!
Wie ſtarck muͤſſen denn die Triebe geweſen ſeyn, die eine ſo gehorſame Tochter zum Ungehorſam verleitet haben? Was mußte ich vor Gedancken von ihnen hegen? Was fuͤr Hofnung mußte ich darauf bauen, ſo lange ich alles von dieſer Seite anſahe?
Allein hier kann eingewandt werden, daß ihre vornehmſte Abſicht war, ein Ungluͤck zu verhuͤten, das zwiſchen ihrem Bruder und Verwanten, und dem Manne, dem jene ſo baͤuriſch begegneten, vorgehen moͤchte.
Warum bekuͤmmerte ſie ſich aber um andere, die ſich um ſie nicht bekuͤmmern? War nicht ihrer Sorgfalt ohngeachtet die Schlaͤgerey vorgegangen? Welche tugendhafte Perſon wird ihre Schein- Pflicht, die ſie ſelbſt fuͤr Pflicht erkennet, um ir- gend einer Urſache willen uͤbertreten? Vielweniger haͤtte ſie ſich durch die Begierde, ein ungewiſſes Uebel zu verhuͤten, ſollen verleiten laſſen.
Faͤllſt du mir nicht ſchon wieder in die Rede, und ſprichſt: du Lovelace warſt vorhin der Verfuͤhrer? und jetzt wirſt du der Anklaͤger?
Jch
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Auf die That, auf den Jrrthum ſelbſt kommt
es an.
Fuhr ſie nicht wider ihrer Eltern Verbot fort,
Briefe mit mir zu wechſeln?
Das geſtehet ſie ſelbſt.
Hat jemahls eine Tochter einen ſtaͤrckern Ein-
druck von dem Umfang der Pflichten des vierten
Gebotes gehabt, als ſie?
Niemahls!
Wie ſtarck muͤſſen denn die Triebe geweſen ſeyn,
die eine ſo gehorſame Tochter zum Ungehorſam
verleitet haben? Was mußte ich vor Gedancken
von ihnen hegen? Was fuͤr Hofnung mußte ich
darauf bauen, ſo lange ich alles von dieſer Seite
anſahe?
Allein hier kann eingewandt werden, daß ihre
vornehmſte Abſicht war, ein Ungluͤck zu verhuͤten,
das zwiſchen ihrem Bruder und Verwanten, und
dem Manne, dem jene ſo baͤuriſch begegneten,
vorgehen moͤchte.
Warum bekuͤmmerte ſie ſich aber um andere,
die ſich um ſie nicht bekuͤmmern? War nicht ihrer
Sorgfalt ohngeachtet die Schlaͤgerey vorgegangen?
Welche tugendhafte Perſon wird ihre Schein-
Pflicht, die ſie ſelbſt fuͤr Pflicht erkennet, um ir-
gend einer Urſache willen uͤbertreten? Vielweniger
haͤtte ſie ſich durch die Begierde, ein ungewiſſes
Uebel zu verhuͤten, ſollen verleiten laſſen.
Faͤllſt du mir nicht ſchon wieder in die Rede, und
ſprichſt: du Lovelace warſt vorhin der Verfuͤhrer?
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/184>, abgerufen am 24.11.2024.
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