als er meine Thränen merckte. Es schien, daß er sich nicht einmahl getrauete zu reden, damit nicht seine Stimme etwas von seinem Mitlei- den verrathen möchte. Er nahm also stillschwei- gend, obgleich nach seiner Art, sehr höflich Ab- schied von mir.
Jch habe wider erfahren, daß er mich unten gerühmet hat, und mit meinen Reden sehr wohl zufrieden gewesen ist. Jch glaube, daß er nur deshalb unserer Unterredung gedacht hat, damit man nicht Argwohn schöpfen möchte, als hätte sie den Augapfel der Meinigen betroffen: denn es ist ihm vermuthlich vorhin ein Winck gege- ben worden, nichts davon mit mir zu reden.
Jch war so betrübt und so voll Bestürtzung über diese neue Art, mit mir umzugehen, als ich noch nie gewesen bin. Allein dieses war nur der Anfang zu mehrerer Bestürtzung. Der heu- tige Tag scheint für mich ein Tag der Verwir- rung zu seyn. Es scheint auf jede unerwartete Sache etwas eben so unerwartetes zu folgen: denn es ist sehr wahrscheinlich, daß die Meinigen bey allem diesen ihre Absichten haben.
Des Nachmittags ging mein Bruder und meine Schwester mit dem Herrn Doctor in die Kirche; und er ließ mir seine Empfehlung ma- chen. Jch ging in den Garten; mein Bruder und meine Schwester gingen auch hinein, und machten, daß ich sie sehen mußte. Jhre Absicht schien zu seyn, daß ich bemercken sollte, wie ver- gnügt sie wären. Endlich kamen sie mir in dem
Gan-
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der Clariſſa.
als er meine Thraͤnen merckte. Es ſchien, daß er ſich nicht einmahl getrauete zu reden, damit nicht ſeine Stimme etwas von ſeinem Mitlei- den verrathen moͤchte. Er nahm alſo ſtillſchwei- gend, obgleich nach ſeiner Art, ſehr hoͤflich Ab- ſchied von mir.
Jch habe wider erfahren, daß er mich unten geruͤhmet hat, und mit meinen Reden ſehr wohl zufrieden geweſen iſt. Jch glaube, daß er nur deshalb unſerer Unterredung gedacht hat, damit man nicht Argwohn ſchoͤpfen moͤchte, als haͤtte ſie den Augapfel der Meinigen betroffen: denn es iſt ihm vermuthlich vorhin ein Winck gege- ben worden, nichts davon mit mir zu reden.
Jch war ſo betruͤbt und ſo voll Beſtuͤrtzung uͤber dieſe neue Art, mit mir umzugehen, als ich noch nie geweſen bin. Allein dieſes war nur der Anfang zu mehrerer Beſtuͤrtzung. Der heu- tige Tag ſcheint fuͤr mich ein Tag der Verwir- rung zu ſeyn. Es ſcheint auf jede unerwartete Sache etwas eben ſo unerwartetes zu folgen: denn es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Meinigen bey allem dieſen ihre Abſichten haben.
Des Nachmittags ging mein Bruder und meine Schweſter mit dem Herrn Doctor in die Kirche; und er ließ mir ſeine Empfehlung ma- chen. Jch ging in den Garten; mein Bruder und meine Schweſter gingen auch hinein, und machten, daß ich ſie ſehen mußte. Jhre Abſicht ſchien zu ſeyn, daß ich bemercken ſollte, wie ver- gnuͤgt ſie waͤren. Endlich kamen ſie mir in dem
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der Clariſſa.
als er meine Thraͤnen merckte. Es ſchien, daß
er ſich nicht einmahl getrauete zu reden, damit
nicht ſeine Stimme etwas von ſeinem Mitlei-
den verrathen moͤchte. Er nahm alſo ſtillſchwei-
gend, obgleich nach ſeiner Art, ſehr hoͤflich Ab-
ſchied von mir.
Jch habe wider erfahren, daß er mich unten
geruͤhmet hat, und mit meinen Reden ſehr wohl
zufrieden geweſen iſt. Jch glaube, daß er nur
deshalb unſerer Unterredung gedacht hat, damit
man nicht Argwohn ſchoͤpfen moͤchte, als haͤtte
ſie den Augapfel der Meinigen betroffen: denn
es iſt ihm vermuthlich vorhin ein Winck gege-
ben worden, nichts davon mit mir zu reden.
Jch war ſo betruͤbt und ſo voll Beſtuͤrtzung
uͤber dieſe neue Art, mit mir umzugehen, als ich
noch nie geweſen bin. Allein dieſes war nur
der Anfang zu mehrerer Beſtuͤrtzung. Der heu-
tige Tag ſcheint fuͤr mich ein Tag der Verwir-
rung zu ſeyn. Es ſcheint auf jede unerwartete
Sache etwas eben ſo unerwartetes zu folgen:
denn es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Meinigen
bey allem dieſen ihre Abſichten haben.
Des Nachmittags ging mein Bruder und
meine Schweſter mit dem Herrn Doctor in die
Kirche; und er ließ mir ſeine Empfehlung ma-
chen. Jch ging in den Garten; mein Bruder
und meine Schweſter gingen auch hinein, und
machten, daß ich ſie ſehen mußte. Jhre Abſicht
ſchien zu ſeyn, daß ich bemercken ſollte, wie ver-
gnuͤgt ſie waͤren. Endlich kamen ſie mir in dem
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/283>, abgerufen am 25.11.2024.
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