sind. Allein wie würde die Antwort in einem Alter von achtzehn Jahren ausgefallen seyn?
Sie sagt: man müsse entweder glauben, daß die Neigungen eines solchen Frauenzimmers, die es nicht verleugnen könnte, ungemein heftig wären? (und das würde sich keine wohlgezoge- ne und artige Person gern nachsagen lassen) oder, daß es sehr eigensinnig wäre, und sich nicht ver- leugnen wollte: oder es müßte ihm nicht viel daran gelegen seyn, ob es seinen Eltern eine Ge- fälligkeit erzeigte.
Sie wissen, daß meine Mutter bisweilen sehr starck oder wenigstens sehr hitzig schliesset. Wir sind sehr oft von verschiedener Meinung; und ein jeder hat seinen eigenen Beweiß so lieb, daß wir selten so glücklich sind, einander zu über- zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al- lem Streit so zu gehen, in den sich unsere Hef- tigkeit einmischet. Sie sagt alsdenn: ich wä- re gar zu witzig. Es wird wol eben so viel bedeuten, als vorwitzig in unserer Land-Spra- che bedeutet. Jch antworte: sie sey gar zu verständig. Das ist in einer deutlichen Ue- bersetzung so viel, als: sie sey nicht mehr so jung/ als sie gewesen ist: und nachdem sie Mutter geworden, habe sie vergessen, wie ihr zu Muthe gewesen, da sie noch Tochter war. Wir vertragen uns gleichsam darüber, eine an- dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her- tzen zu meinen: aber ohne uns darüber zu ver- tragen, lassen wir doch die wahre Quelle biswei-
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der Clariſſa.
ſind. Allein wie wuͤrde die Antwort in einem Alter von achtzehn Jahren ausgefallen ſeyn?
Sie ſagt: man muͤſſe entweder glauben, daß die Neigungen eines ſolchen Frauenzimmers, die es nicht verleugnen koͤnnte, ungemein heftig waͤren? (und das wuͤrde ſich keine wohlgezoge- ne und artige Perſon gern nachſagen laſſen) oder, daß es ſehr eigenſinnig waͤre, und ſich nicht ver- leugnen wollte: oder es muͤßte ihm nicht viel daran gelegen ſeyn, ob es ſeinen Eltern eine Ge- faͤlligkeit erzeigte.
Sie wiſſen, daß meine Mutter bisweilen ſehr ſtarck oder wenigſtens ſehr hitzig ſchlieſſet. Wir ſind ſehr oft von verſchiedener Meinung; und ein jeder hat ſeinen eigenen Beweiß ſo lieb, daß wir ſelten ſo gluͤcklich ſind, einander zu uͤber- zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al- lem Streit ſo zu gehen, in den ſich unſere Hef- tigkeit einmiſchet. Sie ſagt alsdenn: ich waͤ- re gar zu witzig. Es wird wol eben ſo viel bedeuten, als vorwitzig in unſerer Land-Spra- che bedeutet. Jch antworte: ſie ſey gar zu verſtaͤndig. Das iſt in einer deutlichen Ue- berſetzung ſo viel, als: ſie ſey nicht mehr ſo jung/ als ſie geweſen iſt: und nachdem ſie Mutter geworden, habe ſie vergeſſen, wie ihr zu Muthe geweſen, da ſie noch Tochter war. Wir vertragen uns gleichſam daruͤber, eine an- dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her- tzen zu meinen: aber ohne uns daruͤber zu ver- tragen, laſſen wir doch die wahre Quelle biswei-
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der Clariſſa.
ſind. Allein wie wuͤrde die Antwort in einem
Alter von achtzehn Jahren ausgefallen ſeyn?
Sie ſagt: man muͤſſe entweder glauben, daß
die Neigungen eines ſolchen Frauenzimmers, die
es nicht verleugnen koͤnnte, ungemein heftig
waͤren? (und das wuͤrde ſich keine wohlgezoge-
ne und artige Perſon gern nachſagen laſſen) oder,
daß es ſehr eigenſinnig waͤre, und ſich nicht ver-
leugnen wollte: oder es muͤßte ihm nicht viel
daran gelegen ſeyn, ob es ſeinen Eltern eine Ge-
faͤlligkeit erzeigte.
Sie wiſſen, daß meine Mutter bisweilen ſehr
ſtarck oder wenigſtens ſehr hitzig ſchlieſſet. Wir
ſind ſehr oft von verſchiedener Meinung; und
ein jeder hat ſeinen eigenen Beweiß ſo lieb, daß
wir ſelten ſo gluͤcklich ſind, einander zu uͤber-
zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al-
lem Streit ſo zu gehen, in den ſich unſere Hef-
tigkeit einmiſchet. Sie ſagt alsdenn: ich waͤ-
re gar zu witzig. Es wird wol eben ſo viel
bedeuten, als vorwitzig in unſerer Land-Spra-
che bedeutet. Jch antworte: ſie ſey gar zu
verſtaͤndig. Das iſt in einer deutlichen Ue-
berſetzung ſo viel, als: ſie ſey nicht mehr ſo
jung/ als ſie geweſen iſt: und nachdem ſie
Mutter geworden, habe ſie vergeſſen, wie ihr
zu Muthe geweſen, da ſie noch Tochter war.
Wir vertragen uns gleichſam daruͤber, eine an-
dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/123>, abgerufen am 24.11.2024.
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