Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
zu seyn: wenn gleich seine Absicht demüthig genug
war, so muß er doch in Gebeerden hochmüthig ge-
wesen seyn, sonst würde es Schorey, die seine
Wiedersacherin nicht ist, ihm nicht Schuld gege-
ben haben.

Jch glaube nicht, daß er das menschliche Hertz
und die Sitten-Lehre so gut verstehet, als einige
von ihm glauben. Erinnern Sie sich noch wohl, wie
ihn die gewöhnliche Anmerckung in Verwunde-
rung setzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh-
rer hätte lernen können; als er sich auf eine dro-
hende Weise über die übeln Nachreden beklagte,
die man gegen ihn aussprengete. Jch sagte ihm
damahls: "wenn er unschuldig wäre, so könnte er
"diese Nachrede verachten: wäre er aber schuldig,
"so würde er durch die Rache nicht unschuldig
"werden. Der Degen könnte nicht als ein
"Schwamm gebraucht werden. Es stünde bey
"ihm selbst, durch Verbesserung des Fehler[s], den
"ihm ein Feind Schuld gäbe, den Feind als einen
"Freund zu gebrauchen, und zwar wider dessen
"Willen, welches eben die edelste Rache sey.
"Denn sein Feind wünschte wahrhaftig nicht,
"daß er von den Fehlern rein seyn sollte, die er an
"ihm tadele."

Er antwortete: der Vorsatz seines Feindes sey
schon eine Wunde für ihn. Und ich fragte ihn:
"wie das seyn könnte? Der blosse Vorsatz ohne
"Nachsatz könne ja nicht verwunden! Sein Feind
"halte den Degen gleichsahm in der Hand, er
"aber richte ihn auf die Brust! Ob er Ursache
"hätte über den bösen Wille n seines Feindes bis

"auf
F f 5

der Clariſſa.
zu ſeyn: wenn gleich ſeine Abſicht demuͤthig genug
war, ſo muß er doch in Gebeerden hochmuͤthig ge-
weſen ſeyn, ſonſt wuͤrde es Schorey, die ſeine
Wiederſacherin nicht iſt, ihm nicht Schuld gege-
ben haben.

Jch glaube nicht, daß er das menſchliche Hertz
und die Sitten-Lehre ſo gut verſtehet, als einige
von ihm glauben. Erinnern Sie ſich noch wohl, wie
ihn die gewoͤhnliche Anmerckung in Verwunde-
rung ſetzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh-
rer haͤtte lernen koͤnnen; als er ſich auf eine dro-
hende Weiſe uͤber die uͤbeln Nachreden beklagte,
die man gegen ihn ausſprengete. Jch ſagte ihm
damahls: „wenn er unſchuldig waͤre, ſo koͤnnte er
„dieſe Nachrede verachten: waͤre er aber ſchuldig,
„ſo wuͤrde er durch die Rache nicht unſchuldig
„werden. Der Degen koͤnnte nicht als ein
„Schwamm gebraucht werden. Es ſtuͤnde bey
„ihm ſelbſt, durch Verbeſſerung des Fehler[ſ], den
„ihm ein Feind Schuld gaͤbe, den Feind als einen
„Freund zu gebrauchen, und zwar wider deſſen
„Willen, welches eben die edelſte Rache ſey.
„Denn ſein Feind wuͤnſchte wahrhaftig nicht,
„daß er von den Fehlern rein ſeyn ſollte, die er an
„ihm tadele.„

Er antwortete: der Vorſatz ſeines Feindes ſey
ſchon eine Wunde fuͤr ihn. Und ich fragte ihn:
„wie das ſeyn koͤnnte? Der bloſſe Vorſatz ohne
„Nachſatz koͤnne ja nicht verwunden! Sein Feind
„halte den Degen gleichſahm in der Hand, er
„aber richte ihn auf die Bruſt! Ob er Urſache
„haͤtte uͤber den boͤſen Wille n ſeines Feindes bis

„auf
F f 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0477" n="457"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
zu &#x017F;eyn: wenn gleich &#x017F;eine Ab&#x017F;icht demu&#x0364;thig genug<lb/>
war, &#x017F;o muß er doch in Gebeerden hochmu&#x0364;thig ge-<lb/>
we&#x017F;en &#x017F;eyn, &#x017F;on&#x017F;t wu&#x0364;rde es <hi rendition="#fr">Schorey,</hi> die &#x017F;eine<lb/>
Wieder&#x017F;acherin nicht i&#x017F;t, ihm nicht Schuld gege-<lb/>
ben haben.</p><lb/>
        <p>Jch glaube nicht, daß er das men&#x017F;chliche Hertz<lb/>
und die Sitten-Lehre &#x017F;o gut ver&#x017F;tehet, als einige<lb/>
von ihm glauben. Erinnern Sie &#x017F;ich noch wohl, wie<lb/>
ihn die gewo&#x0364;hnliche Anmerckung in Verwunde-<lb/>
rung &#x017F;etzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh-<lb/>
rer ha&#x0364;tte lernen ko&#x0364;nnen; als er &#x017F;ich auf eine dro-<lb/>
hende Wei&#x017F;e u&#x0364;ber die u&#x0364;beln Nachreden beklagte,<lb/>
die man gegen ihn aus&#x017F;prengete. Jch &#x017F;agte ihm<lb/>
damahls: &#x201E;wenn er un&#x017F;chuldig wa&#x0364;re, &#x017F;o ko&#x0364;nnte er<lb/>
&#x201E;die&#x017F;e Nachrede verachten: wa&#x0364;re er aber &#x017F;chuldig,<lb/>
&#x201E;&#x017F;o wu&#x0364;rde er durch die Rache nicht un&#x017F;chuldig<lb/>
&#x201E;werden. Der Degen ko&#x0364;nnte nicht als ein<lb/>
&#x201E;Schwamm gebraucht werden. Es &#x017F;tu&#x0364;nde bey<lb/>
&#x201E;ihm &#x017F;elb&#x017F;t, durch Verbe&#x017F;&#x017F;erung des Fehler<supplied>&#x017F;</supplied>, den<lb/>
&#x201E;ihm ein Feind Schuld ga&#x0364;be, den Feind als einen<lb/>
&#x201E;Freund zu gebrauchen, und zwar wider de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x201E;Willen, welches eben die edel&#x017F;te Rache &#x017F;ey.<lb/>
&#x201E;Denn &#x017F;ein Feind wu&#x0364;n&#x017F;chte wahrhaftig nicht,<lb/>
&#x201E;daß er von den Fehlern rein &#x017F;eyn &#x017F;ollte, die er an<lb/>
&#x201E;ihm tadele.&#x201E;</p><lb/>
        <p>Er antwortete: der Vor&#x017F;atz &#x017F;eines Feindes &#x017F;ey<lb/>
&#x017F;chon eine Wunde fu&#x0364;r ihn. Und ich fragte ihn:<lb/>
&#x201E;wie das &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte? Der blo&#x017F;&#x017F;e Vor&#x017F;atz ohne<lb/>
&#x201E;Nach&#x017F;atz ko&#x0364;nne ja nicht verwunden! Sein Feind<lb/>
&#x201E;halte den Degen gleich&#x017F;ahm in der Hand, er<lb/>
&#x201E;aber richte ihn auf die Bru&#x017F;t! Ob er Ur&#x017F;ache<lb/>
&#x201E;ha&#x0364;tte u&#x0364;ber den bo&#x0364;&#x017F;en Wille n &#x017F;eines Feindes bis<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F f 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;auf</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[457/0477] der Clariſſa. zu ſeyn: wenn gleich ſeine Abſicht demuͤthig genug war, ſo muß er doch in Gebeerden hochmuͤthig ge- weſen ſeyn, ſonſt wuͤrde es Schorey, die ſeine Wiederſacherin nicht iſt, ihm nicht Schuld gege- ben haben. Jch glaube nicht, daß er das menſchliche Hertz und die Sitten-Lehre ſo gut verſtehet, als einige von ihm glauben. Erinnern Sie ſich noch wohl, wie ihn die gewoͤhnliche Anmerckung in Verwunde- rung ſetzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh- rer haͤtte lernen koͤnnen; als er ſich auf eine dro- hende Weiſe uͤber die uͤbeln Nachreden beklagte, die man gegen ihn ausſprengete. Jch ſagte ihm damahls: „wenn er unſchuldig waͤre, ſo koͤnnte er „dieſe Nachrede verachten: waͤre er aber ſchuldig, „ſo wuͤrde er durch die Rache nicht unſchuldig „werden. Der Degen koͤnnte nicht als ein „Schwamm gebraucht werden. Es ſtuͤnde bey „ihm ſelbſt, durch Verbeſſerung des Fehlerſ, den „ihm ein Feind Schuld gaͤbe, den Feind als einen „Freund zu gebrauchen, und zwar wider deſſen „Willen, welches eben die edelſte Rache ſey. „Denn ſein Feind wuͤnſchte wahrhaftig nicht, „daß er von den Fehlern rein ſeyn ſollte, die er an „ihm tadele.„ Er antwortete: der Vorſatz ſeines Feindes ſey ſchon eine Wunde fuͤr ihn. Und ich fragte ihn: „wie das ſeyn koͤnnte? Der bloſſe Vorſatz ohne „Nachſatz koͤnne ja nicht verwunden! Sein Feind „halte den Degen gleichſahm in der Hand, er „aber richte ihn auf die Bruſt! Ob er Urſache „haͤtte uͤber den boͤſen Wille n ſeines Feindes bis „auf F f 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/477
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/477>, abgerufen am 23.11.2024.