zu seyn: wenn gleich seine Absicht demüthig genug war, so muß er doch in Gebeerden hochmüthig ge- wesen seyn, sonst würde es Schorey, die seine Wiedersacherin nicht ist, ihm nicht Schuld gege- ben haben.
Jch glaube nicht, daß er das menschliche Hertz und die Sitten-Lehre so gut verstehet, als einige von ihm glauben. Erinnern Sie sich noch wohl, wie ihn die gewöhnliche Anmerckung in Verwunde- rung setzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh- rer hätte lernen können; als er sich auf eine dro- hende Weise über die übeln Nachreden beklagte, die man gegen ihn aussprengete. Jch sagte ihm damahls: "wenn er unschuldig wäre, so könnte er "diese Nachrede verachten: wäre er aber schuldig, "so würde er durch die Rache nicht unschuldig "werden. Der Degen könnte nicht als ein "Schwamm gebraucht werden. Es stünde bey "ihm selbst, durch Verbesserung des Fehler[s], den "ihm ein Feind Schuld gäbe, den Feind als einen "Freund zu gebrauchen, und zwar wider dessen "Willen, welches eben die edelste Rache sey. "Denn sein Feind wünschte wahrhaftig nicht, "daß er von den Fehlern rein seyn sollte, die er an "ihm tadele."
Er antwortete: der Vorsatz seines Feindes sey schon eine Wunde für ihn. Und ich fragte ihn: "wie das seyn könnte? Der blosse Vorsatz ohne "Nachsatz könne ja nicht verwunden! Sein Feind "halte den Degen gleichsahm in der Hand, er "aber richte ihn auf die Brust! Ob er Ursache "hätte über den bösen Wille n seines Feindes bis
"auf
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der Clariſſa.
zu ſeyn: wenn gleich ſeine Abſicht demuͤthig genug war, ſo muß er doch in Gebeerden hochmuͤthig ge- weſen ſeyn, ſonſt wuͤrde es Schorey, die ſeine Wiederſacherin nicht iſt, ihm nicht Schuld gege- ben haben.
Jch glaube nicht, daß er das menſchliche Hertz und die Sitten-Lehre ſo gut verſtehet, als einige von ihm glauben. Erinnern Sie ſich noch wohl, wie ihn die gewoͤhnliche Anmerckung in Verwunde- rung ſetzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh- rer haͤtte lernen koͤnnen; als er ſich auf eine dro- hende Weiſe uͤber die uͤbeln Nachreden beklagte, die man gegen ihn ausſprengete. Jch ſagte ihm damahls: „wenn er unſchuldig waͤre, ſo koͤnnte er „dieſe Nachrede verachten: waͤre er aber ſchuldig, „ſo wuͤrde er durch die Rache nicht unſchuldig „werden. Der Degen koͤnnte nicht als ein „Schwamm gebraucht werden. Es ſtuͤnde bey „ihm ſelbſt, durch Verbeſſerung des Fehler[ſ], den „ihm ein Feind Schuld gaͤbe, den Feind als einen „Freund zu gebrauchen, und zwar wider deſſen „Willen, welches eben die edelſte Rache ſey. „Denn ſein Feind wuͤnſchte wahrhaftig nicht, „daß er von den Fehlern rein ſeyn ſollte, die er an „ihm tadele.„
Er antwortete: der Vorſatz ſeines Feindes ſey ſchon eine Wunde fuͤr ihn. Und ich fragte ihn: „wie das ſeyn koͤnnte? Der bloſſe Vorſatz ohne „Nachſatz koͤnne ja nicht verwunden! Sein Feind „halte den Degen gleichſahm in der Hand, er „aber richte ihn auf die Bruſt! Ob er Urſache „haͤtte uͤber den boͤſen Wille n ſeines Feindes bis
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der Clariſſa.
zu ſeyn: wenn gleich ſeine Abſicht demuͤthig genug
war, ſo muß er doch in Gebeerden hochmuͤthig ge-
weſen ſeyn, ſonſt wuͤrde es Schorey, die ſeine
Wiederſacherin nicht iſt, ihm nicht Schuld gege-
ben haben.
Jch glaube nicht, daß er das menſchliche Hertz
und die Sitten-Lehre ſo gut verſtehet, als einige
von ihm glauben. Erinnern Sie ſich noch wohl, wie
ihn die gewoͤhnliche Anmerckung in Verwunde-
rung ſetzte, die er aus einem jeden Sitten-Leh-
rer haͤtte lernen koͤnnen; als er ſich auf eine dro-
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die man gegen ihn ausſprengete. Jch ſagte ihm
damahls: „wenn er unſchuldig waͤre, ſo koͤnnte er
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„werden. Der Degen koͤnnte nicht als ein
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„ihm ſelbſt, durch Verbeſſerung des Fehlerſ, den
„ihm ein Feind Schuld gaͤbe, den Feind als einen
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„Willen, welches eben die edelſte Rache ſey.
„Denn ſein Feind wuͤnſchte wahrhaftig nicht,
„daß er von den Fehlern rein ſeyn ſollte, die er an
„ihm tadele.„
Er antwortete: der Vorſatz ſeines Feindes ſey
ſchon eine Wunde fuͤr ihn. Und ich fragte ihn:
„wie das ſeyn koͤnnte? Der bloſſe Vorſatz ohne
„Nachſatz koͤnne ja nicht verwunden! Sein Feind
„halte den Degen gleichſahm in der Hand, er
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„haͤtte uͤber den boͤſen Wille n ſeines Feindes bis
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/477>, abgerufen am 23.11.2024.
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