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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
"auf den Tod zu zürnen, wenn ihm dieser böse
"Wille Lebens-lang nützlich seyn könnte?"

Wie kan der so viel nützliche Belesenheit haben,
als man man von ihm saget, der sich über so ge-
meine Regeln der Sitten-Lehrer verwundert?

Es kann nicht fehlen, er flndet ein Vergnügen
in der Rache, ob er gleich die Rachgier an andern
tadelt. Er ist nicht der eintzige, der das Laster
an andern in seiner schwarzen Gestalt siehet, das
er bey sich für keinen Fehler achtet.

Um dieser Ursachen und um dieses Ausschlages
willen schrieb ich ehe mahls, daß ich um aller Welt
willen in ihn nicht verliebt seyn möchte. Jch über-
schritt vielleicht schon die Gebote der Klugheit,
als ich gleichsahm mit ihnen handeln, und mir ei-
ne bedungene Neigung zu ihm vergönnen woll-
te, darüber Sie sich so sehr lustig gemacht haben.

Mich dünckt ich höre schon, daß Sie antwor-
ten: was dient alles dieses zur Sache? Diß sind
die Gründe auf beyden Seiten: bin ich aber ver-
liebt, so bleibe ich ihrer ohngeachtet verliebt. Mit
der Liebe ist es eben so als mit der Schwermuth:
je weniger man die Ursachen davon angeben kann,
desto tieffere Wurtzel hat sie geschlagen. Sie wer-
den mich also von neuen ermahnen, keine Geheim-
nisse zu machen, sondern frey heraus zu beichten.

Wenn Sie es denn einmahl haben wollen, so
gestehe ich, daß er mir ohngeachtet aller seiner über-
wiegenden Fehler dennoch besser gefällt, als ich ge-
dacht hatte, daß er mir jemahls gefallen würde;
und vielleicht besser, als mir ein Mann der so viel

Fehler

Die Geſchichte
„auf den Tod zu zuͤrnen, wenn ihm dieſer boͤſe
„Wille Lebens-lang nuͤtzlich ſeyn koͤnnte?„

Wie kan der ſo viel nuͤtzliche Beleſenheit haben,
als man man von ihm ſaget, der ſich uͤber ſo ge-
meine Regeln der Sitten-Lehrer verwundert?

Es kann nicht fehlen, er flndet ein Vergnuͤgen
in der Rache, ob er gleich die Rachgier an andern
tadelt. Er iſt nicht der eintzige, der das Laſter
an andern in ſeiner ſchwarzen Geſtalt ſiehet, das
er bey ſich fuͤr keinen Fehler achtet.

Um dieſer Urſachen und um dieſes Ausſchlages
willen ſchrieb ich ehe mahls, daß ich um aller Welt
willen in ihn nicht verliebt ſeyn moͤchte. Jch uͤber-
ſchritt vielleicht ſchon die Gebote der Klugheit,
als ich gleichſahm mit ihnen handeln, und mir ei-
ne bedungene Neigung zu ihm vergoͤnnen woll-
te, daruͤber Sie ſich ſo ſehr luſtig gemacht haben.

Mich duͤnckt ich hoͤre ſchon, daß Sie antwor-
ten: was dient alles dieſes zur Sache? Diß ſind
die Gruͤnde auf beyden Seiten: bin ich aber ver-
liebt, ſo bleibe ich ihrer ohngeachtet verliebt. Mit
der Liebe iſt es eben ſo als mit der Schwermuth:
je weniger man die Urſachen davon angeben kann,
deſto tieffere Wurtzel hat ſie geſchlagen. Sie wer-
den mich alſo von neuen ermahnen, keine Geheim-
niſſe zu machen, ſondern frey heraus zu beichten.

Wenn Sie es denn einmahl haben wollen, ſo
geſtehe ich, daß er mir ohngeachtet aller ſeiner uͤber-
wiegenden Fehler dennoch beſſer gefaͤllt, als ich ge-
dacht hatte, daß er mir jemahls gefallen wuͤrde;
und vielleicht beſſer, als mir ein Mann der ſo viel

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[458/0478] Die Geſchichte „auf den Tod zu zuͤrnen, wenn ihm dieſer boͤſe „Wille Lebens-lang nuͤtzlich ſeyn koͤnnte?„ Wie kan der ſo viel nuͤtzliche Beleſenheit haben, als man man von ihm ſaget, der ſich uͤber ſo ge- meine Regeln der Sitten-Lehrer verwundert? Es kann nicht fehlen, er flndet ein Vergnuͤgen in der Rache, ob er gleich die Rachgier an andern tadelt. Er iſt nicht der eintzige, der das Laſter an andern in ſeiner ſchwarzen Geſtalt ſiehet, das er bey ſich fuͤr keinen Fehler achtet. Um dieſer Urſachen und um dieſes Ausſchlages willen ſchrieb ich ehe mahls, daß ich um aller Welt willen in ihn nicht verliebt ſeyn moͤchte. Jch uͤber- ſchritt vielleicht ſchon die Gebote der Klugheit, als ich gleichſahm mit ihnen handeln, und mir ei- ne bedungene Neigung zu ihm vergoͤnnen woll- te, daruͤber Sie ſich ſo ſehr luſtig gemacht haben. Mich duͤnckt ich hoͤre ſchon, daß Sie antwor- ten: was dient alles dieſes zur Sache? Diß ſind die Gruͤnde auf beyden Seiten: bin ich aber ver- liebt, ſo bleibe ich ihrer ohngeachtet verliebt. Mit der Liebe iſt es eben ſo als mit der Schwermuth: je weniger man die Urſachen davon angeben kann, deſto tieffere Wurtzel hat ſie geſchlagen. Sie wer- den mich alſo von neuen ermahnen, keine Geheim- niſſe zu machen, ſondern frey heraus zu beichten. Wenn Sie es denn einmahl haben wollen, ſo geſtehe ich, daß er mir ohngeachtet aller ſeiner uͤber- wiegenden Fehler dennoch beſſer gefaͤllt, als ich ge- dacht hatte, daß er mir jemahls gefallen wuͤrde; und vielleicht beſſer, als mir ein Mann der ſo viel Fehler

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/478>, abgerufen am 23.11.2024.