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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
ihre Familie kenne, so muß sie entweder fliehen,
oder den Mann nehmen, den sie hasset. Dieses
wird sie zu der meinigen machen, ihrer gantzen Fa-
milie und ihrem eigenen unbeweglichen Hertzen
zum Trotz, wenn ich nur meine Anstalten recht ma-
che, und mir die Meinigen in den Stücken zu Hül-
fe kommen, darin es nöthig ist. Sie muß ohne
Bedingung die Meinige werden, ohne daß ich
Besserung verspreche, vielleicht auch ohne daß ich
nöthig habe, sie lange zu belagern. Sie soll noch
zur Heuchlerin werden, und sich stellen als wenn
sie zweifelte, daß sie meiner werth wäre; und noch
ungewiß seyn, ob - - denn soll die gantze schelmi-
sche Familie mir zu Füssen fallen: ich will ihnen
gebieterisch vorschreiben, und ihr schmutziger vor-
nehmer Bruder soll noch auf dem Fuß-Schemel
meines Throns knien.

Alle meine Furcht entstehet daher, daß ich nur
noch so wenig Antheil an dem Herzen dieser unver-
gleichlichen frostigen Schönheit erlanget habe.
So roth gefärbte, so artige Gesichts-Züge! so helle
Augen! so ausnehmend schön gebildete Glieder! ei-
ne so blühende Gesundheit und Jugend! ein so be-
lebter Blick! und dennoch ein so verwahrtes und
unüberwindliches Hertz! Wie ist das möglich?
sonderlich da ich dieses Herz zu erobern suche, der ich
sonst immer so glücklich gewesen bin. Warlich es
giebt Leute, und ich selbst habe einige davon gespro-
chen, die sich erinnern können, daß diese Göttin
gebohren ist: ihre Frau Norton! rühmt sich
noch, sie in der ersten Kindheit gewartet und nach-

her

Die Geſchichte
ihre Familie kenne, ſo muß ſie entweder fliehen,
oder den Mann nehmen, den ſie haſſet. Dieſes
wird ſie zu der meinigen machen, ihrer gantzen Fa-
milie und ihrem eigenen unbeweglichen Hertzen
zum Trotz, wenn ich nur meine Anſtalten recht ma-
che, und mir die Meinigen in den Stuͤcken zu Huͤl-
fe kommen, darin es noͤthig iſt. Sie muß ohne
Bedingung die Meinige werden, ohne daß ich
Beſſerung verſpreche, vielleicht auch ohne daß ich
noͤthig habe, ſie lange zu belagern. Sie ſoll noch
zur Heuchlerin werden, und ſich ſtellen als wenn
ſie zweifelte, daß ſie meiner werth waͤre; und noch
ungewiß ſeyn, ob ‒ ‒ denn ſoll die gantze ſchelmi-
ſche Familie mir zu Fuͤſſen fallen: ich will ihnen
gebieteriſch vorſchreiben, und ihr ſchmutziger vor-
nehmer Bruder ſoll noch auf dem Fuß-Schemel
meines Throns knien.

Alle meine Furcht entſtehet daher, daß ich nur
noch ſo wenig Antheil an dem Herzen dieſer unver-
gleichlichen froſtigen Schoͤnheit erlanget habe.
So roth gefaͤrbte, ſo artige Geſichts-Zuͤge! ſo helle
Augen! ſo ausnehmend ſchoͤn gebildete Glieder! ei-
ne ſo bluͤhende Geſundheit und Jugend! ein ſo be-
lebter Blick! und dennoch ein ſo verwahrtes und
unuͤberwindliches Hertz! Wie iſt das moͤglich?
ſonderlich da ich dieſes Herz zu erobern ſuche, der ich
ſonſt immer ſo gluͤcklich geweſen bin. Warlich es
giebt Leute, und ich ſelbſt habe einige davon geſpro-
chen, die ſich erinnern koͤnnen, daß dieſe Goͤttin
gebohren iſt: ihre Frau Norton! ruͤhmt ſich
noch, ſie in der erſten Kindheit gewartet und nach-

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[332/0352] Die Geſchichte ihre Familie kenne, ſo muß ſie entweder fliehen, oder den Mann nehmen, den ſie haſſet. Dieſes wird ſie zu der meinigen machen, ihrer gantzen Fa- milie und ihrem eigenen unbeweglichen Hertzen zum Trotz, wenn ich nur meine Anſtalten recht ma- che, und mir die Meinigen in den Stuͤcken zu Huͤl- fe kommen, darin es noͤthig iſt. Sie muß ohne Bedingung die Meinige werden, ohne daß ich Beſſerung verſpreche, vielleicht auch ohne daß ich noͤthig habe, ſie lange zu belagern. Sie ſoll noch zur Heuchlerin werden, und ſich ſtellen als wenn ſie zweifelte, daß ſie meiner werth waͤre; und noch ungewiß ſeyn, ob ‒ ‒ denn ſoll die gantze ſchelmi- ſche Familie mir zu Fuͤſſen fallen: ich will ihnen gebieteriſch vorſchreiben, und ihr ſchmutziger vor- nehmer Bruder ſoll noch auf dem Fuß-Schemel meines Throns knien. Alle meine Furcht entſtehet daher, daß ich nur noch ſo wenig Antheil an dem Herzen dieſer unver- gleichlichen froſtigen Schoͤnheit erlanget habe. So roth gefaͤrbte, ſo artige Geſichts-Zuͤge! ſo helle Augen! ſo ausnehmend ſchoͤn gebildete Glieder! ei- ne ſo bluͤhende Geſundheit und Jugend! ein ſo be- lebter Blick! und dennoch ein ſo verwahrtes und unuͤberwindliches Hertz! Wie iſt das moͤglich? ſonderlich da ich dieſes Herz zu erobern ſuche, der ich ſonſt immer ſo gluͤcklich geweſen bin. Warlich es giebt Leute, und ich ſelbſt habe einige davon geſpro- chen, die ſich erinnern koͤnnen, daß dieſe Goͤttin gebohren iſt: ihre Frau Norton! ruͤhmt ſich noch, ſie in der erſten Kindheit gewartet und nach- her

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/352>, abgerufen am 18.05.2024.