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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte

"Wie weit gehst du, Clärchen?

"Liebste Mutter, gegen meinen Vater habe
"ich zuviel Hochachtung und Ehrfurcht. Jch
"kan ihn nicht für so hart und herrisch halten,
"daß er gegen sie gestünde, er wolle schlechter-
"dings als ein Herr mit mir umgehen.

"Was nun Clärchen? - - Mädchen!

"Jch bitte nur um Gedult. Sie selbst belieb-
"ten ja zu sagen, sie wollten mich mit Gedult
"aushören. Das äusserliche Ansehen soll bey
"mir ein Nichts seyn, weil man mich für ver-
"ständig hält! Mein Auge soll beleidiget, und
"mein Verstand nicht überzeuget werden!

"Mädchen! Mädchen!

"So will man mich durch die guten Eigen-
"schafften straffen, deren man mich beschuldigt.
"Jch soll ein Ungeheuer heyrathen.

"Jch komme ausser mir. Redest du noch
"Clarissa Harlowe?

"Meine liebe Mutter, in meinen Augen ist
"er ein Ungeheuer. - - Damit ich zu dieser Be-
"gegnung nicht sauer sehen möge, rühmt man
"mich einmal, daß mein Hertz noch frey von
"Liebe sey. Ein anderes mahl giebt man mir
"Schuld, daß ich mich in einem jungen Herrn
"verliebt habe, gegen dessen Aufführung sehr
"viel einzuwenden ist. Jch werde eingesperret,
"als wenn ich ein liederliches Mädchen wäre,
"und mit diesem Menschen davon lauffen, und
"die gantze Familie beschimpfen wollte. Wer
"kan Gedult behalten, wenn ihm so begegnet
"wird?

"Nun
Die Geſchichte

„Wie weit gehſt du, Claͤrchen?

„Liebſte Mutter, gegen meinen Vater habe
„ich zuviel Hochachtung und Ehrfurcht. Jch
„kan ihn nicht fuͤr ſo hart und herriſch halten,
„daß er gegen ſie geſtuͤnde, er wolle ſchlechter-
„dings als ein Herr mit mir umgehen.

„Was nun Claͤrchen? ‒ ‒ Maͤdchen!

„Jch bitte nur um Gedult. Sie ſelbſt belieb-
„ten ja zu ſagen, ſie wollten mich mit Gedult
„aushoͤren. Das aͤuſſerliche Anſehen ſoll bey
„mir ein Nichts ſeyn, weil man mich fuͤr ver-
„ſtaͤndig haͤlt! Mein Auge ſoll beleidiget, und
„mein Verſtand nicht uͤberzeuget werden!

„Maͤdchen! Maͤdchen!

„So will man mich durch die guten Eigen-
„ſchafften ſtraffen, deren man mich beſchuldigt.
„Jch ſoll ein Ungeheuer heyrathen.

„Jch komme auſſer mir. Redeſt du noch
Clariſſa Harlowe?

„Meine liebe Mutter, in meinen Augen iſt
„er ein Ungeheuer. ‒ ‒ Damit ich zu dieſer Be-
„gegnung nicht ſauer ſehen moͤge, ruͤhmt man
„mich einmal, daß mein Hertz noch frey von
„Liebe ſey. Ein anderes mahl giebt man mir
„Schuld, daß ich mich in einem jungen Herrn
„verliebt habe, gegen deſſen Auffuͤhrung ſehr
„viel einzuwenden iſt. Jch werde eingeſperret,
„als wenn ich ein liederliches Maͤdchen waͤre,
„und mit dieſem Menſchen davon lauffen, und
„die gantze Familie beſchimpfen wollte. Wer
„kan Gedult behalten, wenn ihm ſo begegnet
„wird?

„Nun
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[180/0200] Die Geſchichte „Wie weit gehſt du, Claͤrchen? „Liebſte Mutter, gegen meinen Vater habe „ich zuviel Hochachtung und Ehrfurcht. Jch „kan ihn nicht fuͤr ſo hart und herriſch halten, „daß er gegen ſie geſtuͤnde, er wolle ſchlechter- „dings als ein Herr mit mir umgehen. „Was nun Claͤrchen? ‒ ‒ Maͤdchen! „Jch bitte nur um Gedult. Sie ſelbſt belieb- „ten ja zu ſagen, ſie wollten mich mit Gedult „aushoͤren. Das aͤuſſerliche Anſehen ſoll bey „mir ein Nichts ſeyn, weil man mich fuͤr ver- „ſtaͤndig haͤlt! Mein Auge ſoll beleidiget, und „mein Verſtand nicht uͤberzeuget werden! „Maͤdchen! Maͤdchen! „So will man mich durch die guten Eigen- „ſchafften ſtraffen, deren man mich beſchuldigt. „Jch ſoll ein Ungeheuer heyrathen. „Jch komme auſſer mir. Redeſt du noch „Clariſſa Harlowe? „Meine liebe Mutter, in meinen Augen iſt „er ein Ungeheuer. ‒ ‒ Damit ich zu dieſer Be- „gegnung nicht ſauer ſehen moͤge, ruͤhmt man „mich einmal, daß mein Hertz noch frey von „Liebe ſey. Ein anderes mahl giebt man mir „Schuld, daß ich mich in einem jungen Herrn „verliebt habe, gegen deſſen Auffuͤhrung ſehr „viel einzuwenden iſt. Jch werde eingeſperret, „als wenn ich ein liederliches Maͤdchen waͤre, „und mit dieſem Menſchen davon lauffen, und „die gantze Familie beſchimpfen wollte. Wer „kan Gedult behalten, wenn ihm ſo begegnet „wird? „Nun

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/200>, abgerufen am 02.05.2024.