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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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daß er den Großvogel verjagt habe; drauf führt' er
sie auf die andere Seite des Felsen, und stellte sie sei-
ner Gemahlin vor. Es war, wie bekannt, eine
Sache von äußerster Wichtigkeit, daß Christine nicht
merkte, daß ihr Gemahl eine solche Last fortbringen
könnte; sonst würde sie gewis einen Verdacht auf ihn
geworfen, oder wenigstens ihren Vater haben besu-
chen wollen, wodurch alles Glück des Victorin zer-
nichtet gewesen wäre. Der Priester, und einige an-
dere Bewohner des unbesteiglichen Berges, die davon
vollkommen unterrichtet waren, hüteten sich davon
zu reden; weil sie Victorin für einen gewaltigen
Schwarzkünstler, dem nichts verborgen sey, hielten.

Als jedermann ruhig war, und die Haushälterin
dem Priester übergeben und von ihm in seine Grotte ge-
führt war, erzählte Victorin Christinen, da sie allein
waren, die Gefahr, der er ausgesetzt gewesen, und über-
gab ihr die Antwort ihres Vaters, welche also lautete:

Glaubte ich nicht, meine liebe Tochter, daß du
gezwungen worden wärest, diesen Brief an mich
zu schreiben, so würd' ich mir vorstellen, deine
Schwärmereyen und unwahrscheinlichen Erdich-
tungen suchten mich zu täuschen. Jedermann weiß,
daß der unbesteigliche Berg unbewohnt und un-
bewohnbar ist. Zwar wollen einige Jäger wil-
de Ziegen darauf bemerkt haben; aber andere
widerlegen es. Jch glaube daher, daß dein
Entführer, der treulose Victorin, dich in eine

wüste



daß er den Großvogel verjagt habe; drauf fuͤhrt’ er
ſie auf die andere Seite des Felſen, und ſtellte ſie ſei-
ner Gemahlin vor. Es war, wie bekannt, eine
Sache von aͤußerſter Wichtigkeit, daß Chriſtine nicht
merkte, daß ihr Gemahl eine ſolche Laſt fortbringen
koͤnnte; ſonſt wuͤrde ſie gewis einen Verdacht auf ihn
geworfen, oder wenigſtens ihren Vater haben beſu-
chen wollen, wodurch alles Gluͤck des Victorin zer-
nichtet geweſen waͤre. Der Prieſter, und einige an-
dere Bewohner des unbeſteiglichen Berges, die davon
vollkommen unterrichtet waren, huͤteten ſich davon
zu reden; weil ſie Victorin fuͤr einen gewaltigen
Schwarzkuͤnſtler, dem nichts verborgen ſey, hielten.

Als jedermann ruhig war, und die Haushaͤlterin
dem Prieſter uͤbergeben und von ihm in ſeine Grotte ge-
fuͤhrt war, erzaͤhlte Victorin Chriſtinen, da ſie allein
waren, die Gefahr, der er ausgeſetzt geweſen, und uͤber-
gab ihr die Antwort ihres Vaters, welche alſo lautete:

Glaubte ich nicht, meine liebe Tochter, daß du
gezwungen worden waͤreſt, dieſen Brief an mich
zu ſchreiben, ſo wuͤrd’ ich mir vorſtellen, deine
Schwaͤrmereyen und unwahrſcheinlichen Erdich-
tungen ſuchten mich zu taͤuſchen. Jedermann weiß,
daß der unbeſteigliche Berg unbewohnt und un-
bewohnbar iſt. Zwar wollen einige Jaͤger wil-
de Ziegen darauf bemerkt haben; aber andere
widerlegen es. Jch glaube daher, daß dein
Entfuͤhrer, der treuloſe Victorin, dich in eine

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[79/0087] daß er den Großvogel verjagt habe; drauf fuͤhrt’ er ſie auf die andere Seite des Felſen, und ſtellte ſie ſei- ner Gemahlin vor. Es war, wie bekannt, eine Sache von aͤußerſter Wichtigkeit, daß Chriſtine nicht merkte, daß ihr Gemahl eine ſolche Laſt fortbringen koͤnnte; ſonſt wuͤrde ſie gewis einen Verdacht auf ihn geworfen, oder wenigſtens ihren Vater haben beſu- chen wollen, wodurch alles Gluͤck des Victorin zer- nichtet geweſen waͤre. Der Prieſter, und einige an- dere Bewohner des unbeſteiglichen Berges, die davon vollkommen unterrichtet waren, huͤteten ſich davon zu reden; weil ſie Victorin fuͤr einen gewaltigen Schwarzkuͤnſtler, dem nichts verborgen ſey, hielten. Als jedermann ruhig war, und die Haushaͤlterin dem Prieſter uͤbergeben und von ihm in ſeine Grotte ge- fuͤhrt war, erzaͤhlte Victorin Chriſtinen, da ſie allein waren, die Gefahr, der er ausgeſetzt geweſen, und uͤber- gab ihr die Antwort ihres Vaters, welche alſo lautete: Glaubte ich nicht, meine liebe Tochter, daß du gezwungen worden waͤreſt, dieſen Brief an mich zu ſchreiben, ſo wuͤrd’ ich mir vorſtellen, deine Schwaͤrmereyen und unwahrſcheinlichen Erdich- tungen ſuchten mich zu taͤuſchen. Jedermann weiß, daß der unbeſteigliche Berg unbewohnt und un- bewohnbar iſt. Zwar wollen einige Jaͤger wil- de Ziegen darauf bemerkt haben; aber andere widerlegen es. Jch glaube daher, daß dein Entfuͤhrer, der treuloſe Victorin, dich in eine wuͤſte

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/87>, abgerufen am 23.11.2024.