Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



dem Großvogel, der die Mädchen entführte, und er
ward eben so berühmt, als nachher das Thier von
Gevaudan. Es gab sogar Leute, die ihn so nahe
wollten gesehn haben, daß sie seine Größe angaben,
nämlich hundert Fuß breit von einem Ende des Flü-
gels bis zum andern. Er sollte einen krummen
Schnabel groß und lang, wie ein Elephantenrüssel,
haben, und was dergleichen mehr war.

Alle Einwohner des unbesteiglichen Berges durch-
schauderte Ehrfurcht, als sie ihren Beherrscher in
der Luft gewahr wurden. Jndeß hielt' er es nicht
für rathsam in ihrer Mitte sich niederzulassen; denn
da er auf Christinens Anregung den Geistlichen da
zu behalten beschlossen hatte, bracht' er ihm auch ei-
ne Haushälterin mit. Als er bey Tage seinen Rück-
weg antrat, bemerkt' er auf der Lioner Landstrasse
ein Mädchen allein, die als Nätherinn von einer
Stadt zur andern auf Tagearbeit ging. Weil er kei-
ne Gefahr sah, sie zu nehmen, und vermuthete, daß
zwey Haufen Bauern und Reisende, die voran gin-
gen und nachfolgten, Augenzeugen dieses Wunders
seyn würden, stieß er mit einem umgekehrten Bogen,
geschwind wie der Blitz auf sie nieder und führte sie
davon. Das Schreyen, welches die Bauern erhoben,
um ihn, wie einem würklichen Thiere seine Beute
abzujagen, belustigte ihn.

Er setzte das Mädchen halb todt auf der Som-
merwiese nieder und als er seine Flügel abgelegt hat-
te, eilt er, ihr beyzustehen, und sie wieder zum Le-
ben zu bringen. Er tröstete sie mit der Versicherung,

daß



dem Großvogel, der die Maͤdchen entfuͤhrte, und er
ward eben ſo beruͤhmt, als nachher das Thier von
Gevaudan. Es gab ſogar Leute, die ihn ſo nahe
wollten geſehn haben, daß ſie ſeine Groͤße angaben,
naͤmlich hundert Fuß breit von einem Ende des Fluͤ-
gels bis zum andern. Er ſollte einen krummen
Schnabel groß und lang, wie ein Elephantenruͤſſel,
haben, und was dergleichen mehr war.

Alle Einwohner des unbeſteiglichen Berges durch-
ſchauderte Ehrfurcht, als ſie ihren Beherrſcher in
der Luft gewahr wurden. Jndeß hielt’ er es nicht
fuͤr rathſam in ihrer Mitte ſich niederzulaſſen; denn
da er auf Chriſtinens Anregung den Geiſtlichen da
zu behalten beſchloſſen hatte, bracht’ er ihm auch ei-
ne Haushaͤlterin mit. Als er bey Tage ſeinen Ruͤck-
weg antrat, bemerkt’ er auf der Lioner Landſtraſſe
ein Maͤdchen allein, die als Naͤtherinn von einer
Stadt zur andern auf Tagearbeit ging. Weil er kei-
ne Gefahr ſah, ſie zu nehmen, und vermuthete, daß
zwey Haufen Bauern und Reiſende, die voran gin-
gen und nachfolgten, Augenzeugen dieſes Wunders
ſeyn wuͤrden, ſtieß er mit einem umgekehrten Bogen,
geſchwind wie der Blitz auf ſie nieder und fuͤhrte ſie
davon. Das Schreyen, welches die Bauern erhoben,
um ihn, wie einem wuͤrklichen Thiere ſeine Beute
abzujagen, beluſtigte ihn.

Er ſetzte das Maͤdchen halb todt auf der Som-
merwieſe nieder und als er ſeine Fluͤgel abgelegt hat-
te, eilt er, ihr beyzuſtehen, und ſie wieder zum Le-
ben zu bringen. Er troͤſtete ſie mit der Verſicherung,

daß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0086" n="78"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
dem Großvogel, der die Ma&#x0364;dchen entfu&#x0364;hrte, und er<lb/>
ward eben &#x017F;o beru&#x0364;hmt, als nachher das Thier von<lb/>
Gevaudan. Es gab &#x017F;ogar Leute, die ihn &#x017F;o nahe<lb/>
wollten ge&#x017F;ehn haben, daß &#x017F;ie &#x017F;eine Gro&#x0364;ße angaben,<lb/>
na&#x0364;mlich hundert Fuß breit von einem Ende des Flu&#x0364;-<lb/>
gels bis zum andern. Er &#x017F;ollte einen krummen<lb/>
Schnabel groß und lang, wie ein Elephantenru&#x0364;&#x017F;&#x017F;el,<lb/>
haben, und was dergleichen mehr war.</p><lb/>
        <p>Alle Einwohner des unbe&#x017F;teiglichen Berges durch-<lb/>
&#x017F;chauderte Ehrfurcht, als &#x017F;ie ihren Beherr&#x017F;cher in<lb/>
der Luft gewahr wurden. Jndeß hielt&#x2019; er es nicht<lb/>
fu&#x0364;r rath&#x017F;am in ihrer Mitte &#x017F;ich niederzula&#x017F;&#x017F;en; denn<lb/>
da er auf Chri&#x017F;tinens Anregung den Gei&#x017F;tlichen da<lb/>
zu behalten be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en hatte, bracht&#x2019; er ihm auch ei-<lb/>
ne Hausha&#x0364;lterin mit. Als er bey Tage &#x017F;einen Ru&#x0364;ck-<lb/>
weg antrat, bemerkt&#x2019; er auf der Lioner Land&#x017F;tra&#x017F;&#x017F;e<lb/>
ein Ma&#x0364;dchen allein, die als Na&#x0364;therinn von einer<lb/>
Stadt zur andern auf Tagearbeit ging. Weil er kei-<lb/>
ne Gefahr &#x017F;ah, &#x017F;ie zu nehmen, und vermuthete, daß<lb/>
zwey Haufen Bauern und Rei&#x017F;ende, die voran gin-<lb/>
gen und nachfolgten, Augenzeugen die&#x017F;es Wunders<lb/>
&#x017F;eyn wu&#x0364;rden, &#x017F;tieß er mit einem umgekehrten Bogen,<lb/>
ge&#x017F;chwind wie der Blitz auf &#x017F;ie nieder und fu&#x0364;hrte &#x017F;ie<lb/>
davon. Das Schreyen, welches die Bauern erhoben,<lb/>
um ihn, wie einem wu&#x0364;rklichen Thiere &#x017F;eine Beute<lb/>
abzujagen, belu&#x017F;tigte ihn.</p><lb/>
        <p>Er &#x017F;etzte das Ma&#x0364;dchen halb todt auf der Som-<lb/>
merwie&#x017F;e nieder und als er &#x017F;eine Flu&#x0364;gel abgelegt hat-<lb/>
te, eilt er, ihr beyzu&#x017F;tehen, und &#x017F;ie wieder zum Le-<lb/>
ben zu bringen. Er tro&#x0364;&#x017F;tete &#x017F;ie mit der Ver&#x017F;icherung,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">daß</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0086] dem Großvogel, der die Maͤdchen entfuͤhrte, und er ward eben ſo beruͤhmt, als nachher das Thier von Gevaudan. Es gab ſogar Leute, die ihn ſo nahe wollten geſehn haben, daß ſie ſeine Groͤße angaben, naͤmlich hundert Fuß breit von einem Ende des Fluͤ- gels bis zum andern. Er ſollte einen krummen Schnabel groß und lang, wie ein Elephantenruͤſſel, haben, und was dergleichen mehr war. Alle Einwohner des unbeſteiglichen Berges durch- ſchauderte Ehrfurcht, als ſie ihren Beherrſcher in der Luft gewahr wurden. Jndeß hielt’ er es nicht fuͤr rathſam in ihrer Mitte ſich niederzulaſſen; denn da er auf Chriſtinens Anregung den Geiſtlichen da zu behalten beſchloſſen hatte, bracht’ er ihm auch ei- ne Haushaͤlterin mit. Als er bey Tage ſeinen Ruͤck- weg antrat, bemerkt’ er auf der Lioner Landſtraſſe ein Maͤdchen allein, die als Naͤtherinn von einer Stadt zur andern auf Tagearbeit ging. Weil er kei- ne Gefahr ſah, ſie zu nehmen, und vermuthete, daß zwey Haufen Bauern und Reiſende, die voran gin- gen und nachfolgten, Augenzeugen dieſes Wunders ſeyn wuͤrden, ſtieß er mit einem umgekehrten Bogen, geſchwind wie der Blitz auf ſie nieder und fuͤhrte ſie davon. Das Schreyen, welches die Bauern erhoben, um ihn, wie einem wuͤrklichen Thiere ſeine Beute abzujagen, beluſtigte ihn. Er ſetzte das Maͤdchen halb todt auf der Som- merwieſe nieder und als er ſeine Fluͤgel abgelegt hat- te, eilt er, ihr beyzuſtehen, und ſie wieder zum Le- ben zu bringen. Er troͤſtete ſie mit der Verſicherung, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/86
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/86>, abgerufen am 08.05.2024.