Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


"Wenigstens, mein Herr, erwiederte der junge
Mann, wünsch' ich ihnen gewiß alles gute auf
einmal."

Der Alte bot ihm, ohne zu antworten, seine
Hand, führte ihn in das schönste Zimmer seines
Schlosses, ließ ihn niedersetzen, und fragte, was er
zum Frühstück verlange. Der junge Mann war
von seiner Mutter bereits unterrichtet, daß in dem
Gesellschaftssaal des Großvaters, die Familienpor-
traits aufgestellt wären, und unter andern das ihri-
ge zwischen ihrem Vater und Mutter hängen würde.
Seine Augen suchten daher, als er dem alten Herrn
antwortete, daß er zwar zu frühstücken wünschte, es
ihm aber einerley sey was, im Zimmer auch diese Ge-
mählde: Er hatte Zeit genug sie genau zu betrachten,
während daß sein Großvater die nöthigen Befehle
gab; und der Alte fand ihn noch bei seiner Rückkehr,
wie ihm bey Betrachtung von Christinens Bildnisse
eine Thräne ins Auge stieg.

"Was fehlt Jhnen, junger Kavalier, fragte
der Herr."

"Ach! mein Herr, ich betrachte dies Bildniß ei-
ner mir sehr theuren Person! ..."

"Seyv theuern! ... sagte der Alte, der nun
seinen jungen Gast voll Freuden betrachtete. Dies
ist meine Tochter!"

"Meine Mutter."

"Jhre, mein Herr?"

"Er-


„Wenigſtens, mein Herr, erwiederte der junge
Mann, wuͤnſch’ ich ihnen gewiß alles gute auf
einmal.‟

Der Alte bot ihm, ohne zu antworten, ſeine
Hand, fuͤhrte ihn in das ſchoͤnſte Zimmer ſeines
Schloſſes, ließ ihn niederſetzen, und fragte, was er
zum Fruͤhſtuͤck verlange. Der junge Mann war
von ſeiner Mutter bereits unterrichtet, daß in dem
Geſellſchaftsſaal des Großvaters, die Familienpor-
traits aufgeſtellt waͤren, und unter andern das ihri-
ge zwiſchen ihrem Vater und Mutter haͤngen wuͤrde.
Seine Augen ſuchten daher, als er dem alten Herrn
antwortete, daß er zwar zu fruͤhſtuͤcken wuͤnſchte, es
ihm aber einerley ſey was, im Zimmer auch dieſe Ge-
maͤhlde: Er hatte Zeit genug ſie genau zu betrachten,
waͤhrend daß ſein Großvater die noͤthigen Befehle
gab; und der Alte fand ihn noch bei ſeiner Ruͤckkehr,
wie ihm bey Betrachtung von Chriſtinens Bildniſſe
eine Thraͤne ins Auge ſtieg.

„Was fehlt Jhnen, junger Kavalier, fragte
der Herr.‟

„Ach! mein Herr, ich betrachte dies Bildniß ei-
ner mir ſehr theuren Perſon! …‟

„Seyv theuern! … ſagte der Alte, der nun
ſeinen jungen Gaſt voll Freuden betrachtete. Dies
iſt meine Tochter!‟

„Meine Mutter.‟

„Jhre, mein Herr?‟

„Er-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0104" n="96"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>&#x201E;Wenig&#x017F;tens, mein Herr, erwiederte der junge<lb/>
Mann, wu&#x0364;n&#x017F;ch&#x2019; ich ihnen gewiß alles gute auf<lb/>
einmal.&#x201F;</p><lb/>
        <p>Der Alte bot ihm, ohne zu antworten, &#x017F;eine<lb/>
Hand, fu&#x0364;hrte ihn in das &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Zimmer &#x017F;eines<lb/>
Schlo&#x017F;&#x017F;es, ließ ihn nieder&#x017F;etzen, und fragte, was er<lb/>
zum Fru&#x0364;h&#x017F;tu&#x0364;ck verlange. Der junge Mann war<lb/>
von &#x017F;einer Mutter bereits unterrichtet, daß in dem<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chafts&#x017F;aal des Großvaters, die Familienpor-<lb/>
traits aufge&#x017F;tellt wa&#x0364;ren, und unter andern das ihri-<lb/>
ge zwi&#x017F;chen ihrem Vater und Mutter ha&#x0364;ngen wu&#x0364;rde.<lb/>
Seine Augen &#x017F;uchten daher, als er dem alten Herrn<lb/>
antwortete, daß er zwar zu fru&#x0364;h&#x017F;tu&#x0364;cken wu&#x0364;n&#x017F;chte, es<lb/>
ihm aber einerley &#x017F;ey was, im Zimmer auch die&#x017F;e Ge-<lb/>
ma&#x0364;hlde: Er hatte Zeit genug &#x017F;ie genau zu betrachten,<lb/>
wa&#x0364;hrend daß &#x017F;ein Großvater die no&#x0364;thigen Befehle<lb/>
gab; und der Alte fand ihn noch bei &#x017F;einer Ru&#x0364;ckkehr,<lb/>
wie ihm bey Betrachtung von Chri&#x017F;tinens Bildni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
eine Thra&#x0364;ne ins Auge &#x017F;tieg.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was fehlt Jhnen, junger Kavalier, fragte<lb/>
der Herr.&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ach! mein Herr, ich betrachte dies Bildniß ei-<lb/>
ner mir &#x017F;ehr theuren Per&#x017F;on! &#x2026;&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Seyv theuern! &#x2026; &#x017F;agte der Alte, der nun<lb/>
&#x017F;einen jungen Ga&#x017F;t voll Freuden betrachtete. Dies<lb/>
i&#x017F;t meine Tochter!&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Meine Mutter.&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jhre, mein Herr?&#x201F;</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">&#x201E;Er-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0104] „Wenigſtens, mein Herr, erwiederte der junge Mann, wuͤnſch’ ich ihnen gewiß alles gute auf einmal.‟ Der Alte bot ihm, ohne zu antworten, ſeine Hand, fuͤhrte ihn in das ſchoͤnſte Zimmer ſeines Schloſſes, ließ ihn niederſetzen, und fragte, was er zum Fruͤhſtuͤck verlange. Der junge Mann war von ſeiner Mutter bereits unterrichtet, daß in dem Geſellſchaftsſaal des Großvaters, die Familienpor- traits aufgeſtellt waͤren, und unter andern das ihri- ge zwiſchen ihrem Vater und Mutter haͤngen wuͤrde. Seine Augen ſuchten daher, als er dem alten Herrn antwortete, daß er zwar zu fruͤhſtuͤcken wuͤnſchte, es ihm aber einerley ſey was, im Zimmer auch dieſe Ge- maͤhlde: Er hatte Zeit genug ſie genau zu betrachten, waͤhrend daß ſein Großvater die noͤthigen Befehle gab; und der Alte fand ihn noch bei ſeiner Ruͤckkehr, wie ihm bey Betrachtung von Chriſtinens Bildniſſe eine Thraͤne ins Auge ſtieg. „Was fehlt Jhnen, junger Kavalier, fragte der Herr.‟ „Ach! mein Herr, ich betrachte dies Bildniß ei- ner mir ſehr theuren Perſon! …‟ „Seyv theuern! … ſagte der Alte, der nun ſeinen jungen Gaſt voll Freuden betrachtete. Dies iſt meine Tochter!‟ „Meine Mutter.‟ „Jhre, mein Herr?‟ „Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/104
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/104>, abgerufen am 07.05.2024.