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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854.
solche Civilisation hat stets eine religiöse Grundlage, darum reden
wir von einer christlichen, heidnischen etc. Civilisation. Sie ist ferner
keine feststehende unveränderliche Grösse, sondern befindet sich je
nach ihrer Grundlage auf sehr verschiedener Stufe der Entwickelung.
Die alte japanische Civilisation z. B., welche sich auf dem Boden
der chinesischen Philosophie und des Buddhismus entwickelte, brachte
das Volk in den Umgangsformen, Künsten und einigen anderen Dingen
sehr weit, nicht so in der sittlichen und Gesetz-Entwickelung. Wo
die religiöse Grundlage schwindet, schwinden auch die idealen, sitt-
lichen Ziele, und die Civilisation wird zum Zerr- und Trugbilde.
Das Epicuräerthum z. B., das zu erwerben sucht, nur um zu ge-
niessen, dem nicht das Rechtsgefühl, sondern nackte Selbstsucht das
leitende Motiv ist, das göttliches und menschliches Gesetz in gleicher
Weise missachtet, gehört nicht zur wahren Civilisation, wie civilisiert
auch die Formen sein mögen, in denen es einherschreitet. Der
Buddhismus wirkte desshalb so bildend auf seine Bekenner, weil er
ihnen ein hohes Ziel vorhielt, das sie nur durch fortgesetzte sittliche
Arbeit erreichen konnten.

Unsere europäische Civilisation ist das Product einer vielhundert-
jährigen Entwickelung durch Arbeit und Kämpfe ohne Ende auf dem
gesunden, sittlichen Boden des Christenthums. In Japan aber wollte
man diese Errungenschaften des christlichen Abendlandes ohne weiteres
und ohne die Grundlage zu verstehen und anzunehmen, sich zu eigen
machen. Jung-Japan war der Ansicht, es gäbe keinen besseren Weg,
das Ziel zu erreichen, als wenn es gewissermassen aus der Vogel-
perspective sich Europa und Amerika beschauen und dann den Rahm
abschöpfen würde, wo es ihn finde. Leider gab es genug Rathgeber,
die, um ihre Taschen zu füllen, diese Illusion unterstützten.

Der erste Anstoss zu den neuen japanischen Culturbestrebungen
ging aus der inneren Nothwendigkeit hervor, aus dem Gefühle der
Inferiorität in der Bewaffnung und den Verkehrsmitteln. Kanonen
und Hinterlader, Dampfschiffe und Leuchtthürme, Eisenbahnen und
Telegraphen waren die begehrenswerthen Dinge, wegen deren man
mit Europäern zunächst in nähere Beziehungen trat. Die Armee
wurde reorganisiert, eine Flotte gegründet und unter Leitung des eng-
lischen Ingenieurs Brunton die Küste mit einer Reihe von Leucht-
thürmen versehen, besser wie manches europäische Gestade. Eine
einheimische Dampfschifffahrtsgesellschaft (die Mitsubishi) organisierte,
unterstützt von der Regierung, den Küstenverkehr und nahm ihn, wie
die Postverbindung mit Shanghai, den Fremden ab. Das Telegraphen-
netz, welches gleich den Eisenbahnen Engländer anlegten, verbindet

7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854.
solche Civilisation hat stets eine religiöse Grundlage, darum reden
wir von einer christlichen, heidnischen etc. Civilisation. Sie ist ferner
keine feststehende unveränderliche Grösse, sondern befindet sich je
nach ihrer Grundlage auf sehr verschiedener Stufe der Entwickelung.
Die alte japanische Civilisation z. B., welche sich auf dem Boden
der chinesischen Philosophie und des Buddhismus entwickelte, brachte
das Volk in den Umgangsformen, Künsten und einigen anderen Dingen
sehr weit, nicht so in der sittlichen und Gesetz-Entwickelung. Wo
die religiöse Grundlage schwindet, schwinden auch die idealen, sitt-
lichen Ziele, und die Civilisation wird zum Zerr- und Trugbilde.
Das Epicuräerthum z. B., das zu erwerben sucht, nur um zu ge-
niessen, dem nicht das Rechtsgefühl, sondern nackte Selbstsucht das
leitende Motiv ist, das göttliches und menschliches Gesetz in gleicher
Weise missachtet, gehört nicht zur wahren Civilisation, wie civilisiert
auch die Formen sein mögen, in denen es einherschreitet. Der
Buddhismus wirkte desshalb so bildend auf seine Bekenner, weil er
ihnen ein hohes Ziel vorhielt, das sie nur durch fortgesetzte sittliche
Arbeit erreichen konnten.

Unsere europäische Civilisation ist das Product einer vielhundert-
jährigen Entwickelung durch Arbeit und Kämpfe ohne Ende auf dem
gesunden, sittlichen Boden des Christenthums. In Japan aber wollte
man diese Errungenschaften des christlichen Abendlandes ohne weiteres
und ohne die Grundlage zu verstehen und anzunehmen, sich zu eigen
machen. Jung-Japan war der Ansicht, es gäbe keinen besseren Weg,
das Ziel zu erreichen, als wenn es gewissermassen aus der Vogel-
perspective sich Europa und Amerika beschauen und dann den Rahm
abschöpfen würde, wo es ihn finde. Leider gab es genug Rathgeber,
die, um ihre Taschen zu füllen, diese Illusion unterstützten.

Der erste Anstoss zu den neuen japanischen Culturbestrebungen
ging aus der inneren Nothwendigkeit hervor, aus dem Gefühle der
Inferiorität in der Bewaffnung und den Verkehrsmitteln. Kanonen
und Hinterlader, Dampfschiffe und Leuchtthürme, Eisenbahnen und
Telegraphen waren die begehrenswerthen Dinge, wegen deren man
mit Europäern zunächst in nähere Beziehungen trat. Die Armee
wurde reorganisiert, eine Flotte gegründet und unter Leitung des eng-
lischen Ingenieurs Brunton die Küste mit einer Reihe von Leucht-
thürmen versehen, besser wie manches europäische Gestade. Eine
einheimische Dampfschifffahrtsgesellschaft (die Mitsubishi) organisierte,
unterstützt von der Regierung, den Küstenverkehr und nahm ihn, wie
die Postverbindung mit Shanghai, den Fremden ab. Das Telegraphen-
netz, welches gleich den Eisenbahnen Engländer anlegten, verbindet

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[439/0467] 7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854. solche Civilisation hat stets eine religiöse Grundlage, darum reden wir von einer christlichen, heidnischen etc. Civilisation. Sie ist ferner keine feststehende unveränderliche Grösse, sondern befindet sich je nach ihrer Grundlage auf sehr verschiedener Stufe der Entwickelung. Die alte japanische Civilisation z. B., welche sich auf dem Boden der chinesischen Philosophie und des Buddhismus entwickelte, brachte das Volk in den Umgangsformen, Künsten und einigen anderen Dingen sehr weit, nicht so in der sittlichen und Gesetz-Entwickelung. Wo die religiöse Grundlage schwindet, schwinden auch die idealen, sitt- lichen Ziele, und die Civilisation wird zum Zerr- und Trugbilde. Das Epicuräerthum z. B., das zu erwerben sucht, nur um zu ge- niessen, dem nicht das Rechtsgefühl, sondern nackte Selbstsucht das leitende Motiv ist, das göttliches und menschliches Gesetz in gleicher Weise missachtet, gehört nicht zur wahren Civilisation, wie civilisiert auch die Formen sein mögen, in denen es einherschreitet. Der Buddhismus wirkte desshalb so bildend auf seine Bekenner, weil er ihnen ein hohes Ziel vorhielt, das sie nur durch fortgesetzte sittliche Arbeit erreichen konnten. Unsere europäische Civilisation ist das Product einer vielhundert- jährigen Entwickelung durch Arbeit und Kämpfe ohne Ende auf dem gesunden, sittlichen Boden des Christenthums. In Japan aber wollte man diese Errungenschaften des christlichen Abendlandes ohne weiteres und ohne die Grundlage zu verstehen und anzunehmen, sich zu eigen machen. Jung-Japan war der Ansicht, es gäbe keinen besseren Weg, das Ziel zu erreichen, als wenn es gewissermassen aus der Vogel- perspective sich Europa und Amerika beschauen und dann den Rahm abschöpfen würde, wo es ihn finde. Leider gab es genug Rathgeber, die, um ihre Taschen zu füllen, diese Illusion unterstützten. Der erste Anstoss zu den neuen japanischen Culturbestrebungen ging aus der inneren Nothwendigkeit hervor, aus dem Gefühle der Inferiorität in der Bewaffnung und den Verkehrsmitteln. Kanonen und Hinterlader, Dampfschiffe und Leuchtthürme, Eisenbahnen und Telegraphen waren die begehrenswerthen Dinge, wegen deren man mit Europäern zunächst in nähere Beziehungen trat. Die Armee wurde reorganisiert, eine Flotte gegründet und unter Leitung des eng- lischen Ingenieurs Brunton die Küste mit einer Reihe von Leucht- thürmen versehen, besser wie manches europäische Gestade. Eine einheimische Dampfschifffahrtsgesellschaft (die Mitsubishi) organisierte, unterstützt von der Regierung, den Küstenverkehr und nahm ihn, wie die Postverbindung mit Shanghai, den Fremden ab. Das Telegraphen- netz, welches gleich den Eisenbahnen Engländer anlegten, verbindet

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/467>, abgerufen am 22.11.2024.