Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854.
Nonchalance, wozu Selbstüberschätzung den Halbgebildeten so leicht
führt. Die "westliche Civilisation", getragen, oder besser gesagt,
nachgeäfft von solchen unreifen Jünglingen, wie lächerlich erschien
sie nicht! Welcher Europäer, der in Tokio lebte, hat nicht die Er-
innerung an die Sanganichi (drei ersten, der officiellen Begrüssung
gewidmeten Neujahrstage) und die Costüme, in welchen dann viele
dieser jungen Beamten ihren Vorgesetzten ihre Aufwartung machten?
-- Konnte man für sie einen ungeeigneteren Galaanzug ersinnen als
unseren Frack? Man denke sich einen Gratulanten in importierten,
schiefgetretenen Fabrikstiefeln, welche die Füsse nicht ausfüllten, mit
schwarzen Hosen, bei denen am Zeug gespart, Frack, Cylinder und
Handschuhen, die aufs Wachsen berechnet, und einer wohl bunten
Weste, welche ihren Anschluss an die Beinkleider verfehlte, und
zu alledem ein baumwollenes Handtuch mit rothen Randstreifen, um
den Hals gegen die kalte Luft zu schützen! -- Manche lächerliche
Verordnung erschien in den Provinzen. So befahl ein mir bekannter
Gouverneur in seinem grossen Ken der männlichen Bevölkerung die
allerdings zweckmässige europäische Haartracht und gebot den Bürger-
meistern und der Polizei, mit der Scheere darüber zu wachen, dass
kein Scheitelzopf sich sehen lasse.

Im Verhalten der Regierung gegen die Fremden hatte der Bürger-
krieg, wie bereits früher bemerkt wurde, eine überraschende Wand-
lung hervorgebracht. Der Ban-i (fremde Barbar) von gestern war
heute der Ichin-san (fremde Herr) und in der Anrede wohl gar ein
Sen-sei (achtbarer Gelehrter)*). "Blaue Augen und rothes Haar (d. h.
Fremde) waren bei uns nie so viel werth als jetzt", sagte mir 1874
ein befreundeter alter Samurai, als ich ihm meine Verwunderung
darüber aussprach, dass ein älterer deutscher Barbier aus New-York
zum Chefarzt der Expedition nach Formosa mit 500 Dollars Monats-
gehalt ernannt worden war.

Es geziemt uns jedoch, diese und viele ähnliche Erscheinungen
mit Rücksicht auf die Neuheit und die enormen Schwierigkeiten der
Verhältnisse milde zu beurteilen, unsere Anforderungen nicht allzu
hoch zu stellen und nicht ausser Acht zu lassen, dass die Regierung
bei verschiedenen Missgriffen von fremden Rathgebern, in welche sie
ihr Vertrauen setzte, falsch geleitet wurde.

Irrige Vorstellungen von den Reichthümern und natürlichen Hilfs-

*) Dieser ehrenvolle Titel wurde sogar einzelnen früheren Kellnern und Hand-
werkern gewährt, wenn sie sich den Japanern "vermietheten", um als "Professoren"
europäische Civilisation verbreiten zu helfen.

7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854.
Nonchalance, wozu Selbstüberschätzung den Halbgebildeten so leicht
führt. Die »westliche Civilisation«, getragen, oder besser gesagt,
nachgeäfft von solchen unreifen Jünglingen, wie lächerlich erschien
sie nicht! Welcher Europäer, der in Tôkio lebte, hat nicht die Er-
innerung an die Sanganichi (drei ersten, der officiellen Begrüssung
gewidmeten Neujahrstage) und die Costüme, in welchen dann viele
dieser jungen Beamten ihren Vorgesetzten ihre Aufwartung machten?
— Konnte man für sie einen ungeeigneteren Galaanzug ersinnen als
unseren Frack? Man denke sich einen Gratulanten in importierten,
schiefgetretenen Fabrikstiefeln, welche die Füsse nicht ausfüllten, mit
schwarzen Hosen, bei denen am Zeug gespart, Frack, Cylinder und
Handschuhen, die aufs Wachsen berechnet, und einer wohl bunten
Weste, welche ihren Anschluss an die Beinkleider verfehlte, und
zu alledem ein baumwollenes Handtuch mit rothen Randstreifen, um
den Hals gegen die kalte Luft zu schützen! — Manche lächerliche
Verordnung erschien in den Provinzen. So befahl ein mir bekannter
Gouverneur in seinem grossen Ken der männlichen Bevölkerung die
allerdings zweckmässige europäische Haartracht und gebot den Bürger-
meistern und der Polizei, mit der Scheere darüber zu wachen, dass
kein Scheitelzopf sich sehen lasse.

Im Verhalten der Regierung gegen die Fremden hatte der Bürger-
krieg, wie bereits früher bemerkt wurde, eine überraschende Wand-
lung hervorgebracht. Der Ban-i (fremde Barbar) von gestern war
heute der Ichin-san (fremde Herr) und in der Anrede wohl gar ein
Sen-sei (achtbarer Gelehrter)*). »Blaue Augen und rothes Haar (d. h.
Fremde) waren bei uns nie so viel werth als jetzt«, sagte mir 1874
ein befreundeter alter Samurai, als ich ihm meine Verwunderung
darüber aussprach, dass ein älterer deutscher Barbier aus New-York
zum Chefarzt der Expedition nach Formosa mit 500 Dollars Monats-
gehalt ernannt worden war.

Es geziemt uns jedoch, diese und viele ähnliche Erscheinungen
mit Rücksicht auf die Neuheit und die enormen Schwierigkeiten der
Verhältnisse milde zu beurteilen, unsere Anforderungen nicht allzu
hoch zu stellen und nicht ausser Acht zu lassen, dass die Regierung
bei verschiedenen Missgriffen von fremden Rathgebern, in welche sie
ihr Vertrauen setzte, falsch geleitet wurde.

Irrige Vorstellungen von den Reichthümern und natürlichen Hilfs-

*) Dieser ehrenvolle Titel wurde sogar einzelnen früheren Kellnern und Hand-
werkern gewährt, wenn sie sich den Japanern »vermietheten«, um als »Professoren«
europäische Civilisation verbreiten zu helfen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0465" n="437"/><fw place="top" type="header">7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854.</fw><lb/>
Nonchalance, wozu Selbstüberschätzung den Halbgebildeten so leicht<lb/>
führt. Die »westliche Civilisation«, getragen, oder besser gesagt,<lb/>
nachgeäfft von solchen unreifen Jünglingen, wie lächerlich erschien<lb/>
sie nicht! Welcher Europäer, der in Tôkio lebte, hat nicht die Er-<lb/>
innerung an die Sanganichi (drei ersten, der officiellen Begrüssung<lb/>
gewidmeten Neujahrstage) und die Costüme, in welchen dann viele<lb/>
dieser jungen Beamten ihren Vorgesetzten ihre Aufwartung machten?<lb/>
&#x2014; Konnte man für sie einen ungeeigneteren Galaanzug ersinnen als<lb/>
unseren Frack? Man denke sich einen Gratulanten in importierten,<lb/>
schiefgetretenen Fabrikstiefeln, welche die Füsse nicht ausfüllten, mit<lb/>
schwarzen Hosen, bei denen am Zeug gespart, Frack, Cylinder und<lb/>
Handschuhen, die aufs Wachsen berechnet, und einer wohl bunten<lb/>
Weste, welche ihren Anschluss an die Beinkleider verfehlte, und<lb/>
zu alledem ein baumwollenes Handtuch mit rothen Randstreifen, um<lb/>
den Hals gegen die kalte Luft zu schützen! &#x2014; Manche lächerliche<lb/>
Verordnung erschien in den Provinzen. So befahl ein mir bekannter<lb/>
Gouverneur in seinem grossen Ken der männlichen Bevölkerung die<lb/>
allerdings zweckmässige europäische Haartracht und gebot den Bürger-<lb/>
meistern und der Polizei, mit der Scheere darüber zu wachen, dass<lb/>
kein Scheitelzopf sich sehen lasse.</p><lb/>
              <p>Im Verhalten der Regierung gegen die Fremden hatte der Bürger-<lb/>
krieg, wie bereits früher bemerkt wurde, eine überraschende Wand-<lb/>
lung hervorgebracht. Der Ban-i (fremde Barbar) von gestern war<lb/>
heute der Ichin-san (fremde Herr) und in der Anrede wohl gar ein<lb/>
Sen-sei (achtbarer Gelehrter)<note place="foot" n="*)">Dieser ehrenvolle Titel wurde sogar einzelnen früheren Kellnern und Hand-<lb/>
werkern gewährt, wenn sie sich den Japanern »vermietheten«, um als »Professoren«<lb/>
europäische Civilisation verbreiten zu helfen.</note>. »Blaue Augen und rothes Haar (d. h.<lb/>
Fremde) waren bei uns nie so viel werth als jetzt«, sagte mir 1874<lb/>
ein befreundeter alter Samurai, als ich ihm meine Verwunderung<lb/>
darüber aussprach, dass ein älterer deutscher Barbier aus New-York<lb/>
zum Chefarzt der Expedition nach Formosa mit 500 Dollars Monats-<lb/>
gehalt ernannt worden war.</p><lb/>
              <p>Es geziemt uns jedoch, diese und viele ähnliche Erscheinungen<lb/>
mit Rücksicht auf die Neuheit und die enormen Schwierigkeiten der<lb/>
Verhältnisse milde zu beurteilen, unsere Anforderungen nicht allzu<lb/>
hoch zu stellen und nicht ausser Acht zu lassen, dass die Regierung<lb/>
bei verschiedenen Missgriffen von fremden Rathgebern, in welche sie<lb/>
ihr Vertrauen setzte, falsch geleitet wurde.</p><lb/>
              <p>Irrige Vorstellungen von den Reichthümern und natürlichen Hilfs-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0465] 7. Periode. Japan seit dem Jahre 1854. Nonchalance, wozu Selbstüberschätzung den Halbgebildeten so leicht führt. Die »westliche Civilisation«, getragen, oder besser gesagt, nachgeäfft von solchen unreifen Jünglingen, wie lächerlich erschien sie nicht! Welcher Europäer, der in Tôkio lebte, hat nicht die Er- innerung an die Sanganichi (drei ersten, der officiellen Begrüssung gewidmeten Neujahrstage) und die Costüme, in welchen dann viele dieser jungen Beamten ihren Vorgesetzten ihre Aufwartung machten? — Konnte man für sie einen ungeeigneteren Galaanzug ersinnen als unseren Frack? Man denke sich einen Gratulanten in importierten, schiefgetretenen Fabrikstiefeln, welche die Füsse nicht ausfüllten, mit schwarzen Hosen, bei denen am Zeug gespart, Frack, Cylinder und Handschuhen, die aufs Wachsen berechnet, und einer wohl bunten Weste, welche ihren Anschluss an die Beinkleider verfehlte, und zu alledem ein baumwollenes Handtuch mit rothen Randstreifen, um den Hals gegen die kalte Luft zu schützen! — Manche lächerliche Verordnung erschien in den Provinzen. So befahl ein mir bekannter Gouverneur in seinem grossen Ken der männlichen Bevölkerung die allerdings zweckmässige europäische Haartracht und gebot den Bürger- meistern und der Polizei, mit der Scheere darüber zu wachen, dass kein Scheitelzopf sich sehen lasse. Im Verhalten der Regierung gegen die Fremden hatte der Bürger- krieg, wie bereits früher bemerkt wurde, eine überraschende Wand- lung hervorgebracht. Der Ban-i (fremde Barbar) von gestern war heute der Ichin-san (fremde Herr) und in der Anrede wohl gar ein Sen-sei (achtbarer Gelehrter) *). »Blaue Augen und rothes Haar (d. h. Fremde) waren bei uns nie so viel werth als jetzt«, sagte mir 1874 ein befreundeter alter Samurai, als ich ihm meine Verwunderung darüber aussprach, dass ein älterer deutscher Barbier aus New-York zum Chefarzt der Expedition nach Formosa mit 500 Dollars Monats- gehalt ernannt worden war. Es geziemt uns jedoch, diese und viele ähnliche Erscheinungen mit Rücksicht auf die Neuheit und die enormen Schwierigkeiten der Verhältnisse milde zu beurteilen, unsere Anforderungen nicht allzu hoch zu stellen und nicht ausser Acht zu lassen, dass die Regierung bei verschiedenen Missgriffen von fremden Rathgebern, in welche sie ihr Vertrauen setzte, falsch geleitet wurde. Irrige Vorstellungen von den Reichthümern und natürlichen Hilfs- *) Dieser ehrenvolle Titel wurde sogar einzelnen früheren Kellnern und Hand- werkern gewährt, wenn sie sich den Japanern »vermietheten«, um als »Professoren« europäische Civilisation verbreiten zu helfen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/465
Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/465>, abgerufen am 20.05.2024.