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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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französisch, wenn der Paroxismus begann, mit
einer unglaublichen Fertigkeit, nahm den Ton,
die Eleganz und alle Manieren einer Französin
so natürlich an, dass es Erstaunen erregte. Mit
Personen, die die französische Sprache schlecht
oder gar nicht redeten, sprach sie teutsch, aber
teutsch-französisch, mit einer unnachahm-
lichen Fertigkeit. In den ersten Anfällen fiel ihr
gar die teutsche Sprache, als wenn sie dieselbe
erst erlernet hätte, schwer, hingegen redete sie
ihre eingebildete Muttersprache in dem nemlichen
Athem mit grosser Fertigkeit. Sie konnte in den
Anfällen an kein Verhältniss, z. B. an ihre Ge-
burt, erinnert werden, das von der Stuttgardter
Persönlichkeit unzertrennlich war; hingegen la-
gen alle anderen Reminiscenzen, die mit derselben
in keiner solchen Verbindung standen, zu ihrem
Gebrauch im Gedächtniss da. Sie beklagte sich
über ihr unglückliches Schicksal mit Worten, in
einem Ton und mit einer Miene des tiefsten Lei-
dens, die allen Anwesenden das Herz brach.
Zu andern Zeiten scherzte sie mit vieler Naivität.
Ihr kurzsichtiger Arzt sah ihr einmal zu nahe ins
Auge, um dessen Zustand zu erforschen. Warum
das? fragte sie. Ich bewundere, antwortete er,
ihren schönen grossen Augenstern. Was bedeu-
tet dieser? fragte sie. Eine grosse Seele, antwor-
tete der Arzt. Dann hat ein Kalb, erwiederte
sie, auch eine grosse Seele. Uebrigens hatten
die Anfälle ihrer Krankheit noch das Merkwür-

franzöſiſch, wenn der Paroxismus begann, mit
einer unglaublichen Fertigkeit, nahm den Ton,
die Eleganz und alle Manieren einer Franzöſin
ſo natürlich an, daſs es Erſtaunen erregte. Mit
Perſonen, die die franzöſiſche Sprache ſchlecht
oder gar nicht redeten, ſprach ſie teutſch, aber
teutſch-franzöſiſch, mit einer unnachahm-
lichen Fertigkeit. In den erſten Anfällen fiel ihr
gar die teutſche Sprache, als wenn ſie dieſelbe
erſt erlernet hätte, ſchwer, hingegen redete ſie
ihre eingebildete Mutterſprache in dem nemlichen
Athem mit groſser Fertigkeit. Sie konnte in den
Anfällen an kein Verhältniſs, z. B. an ihre Ge-
burt, erinnert werden, das von der Stuttgardter
Perſönlichkeit unzertrennlich war; hingegen la-
gen alle anderen Reminiſcenzen, die mit derſelben
in keiner ſolchen Verbindung ſtanden, zu ihrem
Gebrauch im Gedächtniſs da. Sie beklagte ſich
über ihr unglückliches Schickſal mit Worten, in
einem Ton und mit einer Miene des tiefſten Lei-
dens, die allen Anweſenden das Herz brach.
Zu andern Zeiten ſcherzte ſie mit vieler Naivität.
Ihr kurzſichtiger Arzt ſah ihr einmal zu nahe ins
Auge, um deſſen Zuſtand zu erforſchen. Warum
das? fragte ſie. Ich bewundere, antwortete er,
ihren ſchönen groſsen Augenſtern. Was bedeu-
tet dieſer? fragte ſie. Eine groſse Seele, antwor-
tete der Arzt. Dann hat ein Kalb, erwiederte
ſie, auch eine groſse Seele. Uebrigens hatten
die Anfälle ihrer Krankheit noch das Merkwür-

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[76/0081] franzöſiſch, wenn der Paroxismus begann, mit einer unglaublichen Fertigkeit, nahm den Ton, die Eleganz und alle Manieren einer Franzöſin ſo natürlich an, daſs es Erſtaunen erregte. Mit Perſonen, die die franzöſiſche Sprache ſchlecht oder gar nicht redeten, ſprach ſie teutſch, aber teutſch-franzöſiſch, mit einer unnachahm- lichen Fertigkeit. In den erſten Anfällen fiel ihr gar die teutſche Sprache, als wenn ſie dieſelbe erſt erlernet hätte, ſchwer, hingegen redete ſie ihre eingebildete Mutterſprache in dem nemlichen Athem mit groſser Fertigkeit. Sie konnte in den Anfällen an kein Verhältniſs, z. B. an ihre Ge- burt, erinnert werden, das von der Stuttgardter Perſönlichkeit unzertrennlich war; hingegen la- gen alle anderen Reminiſcenzen, die mit derſelben in keiner ſolchen Verbindung ſtanden, zu ihrem Gebrauch im Gedächtniſs da. Sie beklagte ſich über ihr unglückliches Schickſal mit Worten, in einem Ton und mit einer Miene des tiefſten Lei- dens, die allen Anweſenden das Herz brach. Zu andern Zeiten ſcherzte ſie mit vieler Naivität. Ihr kurzſichtiger Arzt ſah ihr einmal zu nahe ins Auge, um deſſen Zuſtand zu erforſchen. Warum das? fragte ſie. Ich bewundere, antwortete er, ihren ſchönen groſsen Augenſtern. Was bedeu- tet dieſer? fragte ſie. Eine groſse Seele, antwor- tete der Arzt. Dann hat ein Kalb, erwiederte ſie, auch eine groſse Seele. Uebrigens hatten die Anfälle ihrer Krankheit noch das Merkwür-

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/81>, abgerufen am 25.11.2024.