losen Schlachtopfern, die unter dem Beile des Henkers fielen, und sah täglich Flüchtlinge, die in dem Gasthof zum Römischen Kaiser in Stutt- gard einkehrten. In dieser Stimmung ihrer Seele bekam sie ein Fieber, das nach einigen Tagen ohne Crise verschwand; und von dem Augen- blick an fiel die Krankheit auf ihr Seelenorgan. Sie bekam einen periodischen Wahnsinn, in wel- chem sie ihre wahre Persönlichkeit verlohr, und dieselbe mit einer fremden umtauschte. Sie hielt sich für eine auf der Flucht begriffene Französin, die bey ihrem Durchgang durch Stuttgard krank geworden sey, und daselbst im Römischen Kaiser logiere. Die Anfälle traten plötzlich ein. Mit ihrem Eintritt brachte sie ihre sämmtlichen Ver- hältnisse mit ihrer fixen Idee in das vollkommen- ste Ebenmaass. Ihre äussere Besonnenheit, Ur- theilskraft, ihr Scharfsinn, Witz und Gedächt- niss, kurz ihre sämmtlichen Seelenvermögen, waren eher gespannt als abgestumpft, aber nicht mehr Eigenthum des Stuttgardter Mädchens, sondern zum ausschliesslichen Gebrauch der flüchtigen Französin da. Das ganze um sie versammelte Personal wurde, wie durch den Zauberstab einer Fee, in ein anderes verwandelt. Sie hielt die Anwesenden für Bekannte, die von Frankreich kamen oder dahin gingen, für andere Reisende, oder auch für Stuttgardter Einwohner, die sie als eine kranke Fremde, in ihrem Gasthof aus Höflichkeit besuchten. Sie sprach augenblicklich
loſen Schlachtopfern, die unter dem Beile des Henkers fielen, und ſah täglich Flüchtlinge, die in dem Gaſthof zum Römiſchen Kaiſer in Stutt- gard einkehrten. In dieſer Stimmung ihrer Seele bekam ſie ein Fieber, das nach einigen Tagen ohne Criſe verſchwand; und von dem Augen- blick an fiel die Krankheit auf ihr Seelenorgan. Sie bekam einen periodiſchen Wahnſinn, in wel- chem ſie ihre wahre Perſönlichkeit verlohr, und dieſelbe mit einer fremden umtauſchte. Sie hielt ſich für eine auf der Flucht begriffene Franzöſin, die bey ihrem Durchgang durch Stuttgard krank geworden ſey, und daſelbſt im Römiſchen Kaiſer logiere. Die Anfälle traten plötzlich ein. Mit ihrem Eintritt brachte ſie ihre ſämmtlichen Ver- hältniſſe mit ihrer fixen Idee in das vollkommen- ſte Ebenmaaſs. Ihre äuſsere Beſonnenheit, Ur- theilskraft, ihr Scharfſinn, Witz und Gedächt- niſs, kurz ihre ſämmtlichen Seelenvermögen, waren eher geſpannt als abgeſtumpft, aber nicht mehr Eigenthum des Stuttgardter Mädchens, ſondern zum ausſchlieſslichen Gebrauch der flüchtigen Franzöſin da. Das ganze um ſie verſammelte Perſonal wurde, wie durch den Zauberſtab einer Fee, in ein anderes verwandelt. Sie hielt die Anweſenden für Bekannte, die von Frankreich kamen oder dahin gingen, für andere Reiſende, oder auch für Stuttgardter Einwohner, die ſie als eine kranke Fremde, in ihrem Gaſthof aus Höflichkeit beſuchten. Sie ſprach augenblicklich
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loſen Schlachtopfern, die unter dem Beile des
Henkers fielen, und ſah täglich Flüchtlinge, die
in dem Gaſthof zum Römiſchen Kaiſer in Stutt-
gard einkehrten. In dieſer Stimmung ihrer Seele
bekam ſie ein Fieber, das nach einigen Tagen
ohne Criſe verſchwand; und von dem Augen-
blick an fiel die Krankheit auf ihr Seelenorgan.
Sie bekam einen periodiſchen Wahnſinn, in wel-
chem ſie ihre wahre Perſönlichkeit verlohr, und
dieſelbe mit einer fremden umtauſchte. Sie hielt
ſich für eine auf der Flucht begriffene Franzöſin,
die bey ihrem Durchgang durch Stuttgard krank
geworden ſey, und daſelbſt im Römiſchen Kaiſer
logiere. Die Anfälle traten plötzlich ein. Mit
ihrem Eintritt brachte ſie ihre ſämmtlichen Ver-
hältniſſe mit ihrer fixen Idee in das vollkommen-
ſte Ebenmaaſs. Ihre äuſsere Beſonnenheit, Ur-
theilskraft, ihr Scharfſinn, Witz und Gedächt-
niſs, kurz ihre ſämmtlichen Seelenvermögen, waren
eher geſpannt als abgeſtumpft, aber nicht mehr
Eigenthum des Stuttgardter Mädchens, ſondern
zum ausſchlieſslichen Gebrauch der flüchtigen
Franzöſin da. Das ganze um ſie verſammelte
Perſonal wurde, wie durch den Zauberſtab einer
Fee, in ein anderes verwandelt. Sie hielt die
Anweſenden für Bekannte, die von Frankreich
kamen oder dahin gingen, für andere Reiſende,
oder auch für Stuttgardter Einwohner, die ſie
als eine kranke Fremde, in ihrem Gaſthof aus
Höflichkeit beſuchten. Sie ſprach augenblicklich
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/80>, abgerufen am 25.11.2024.
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